1.

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Jemand streicht mir über den Kopf. Ich liege wieder in meinem Bett. Als ich aufschaue, sehe ich meine Mutter die auf der Bettkante sitzt. Sie streicht mir die noch feuchten Strähnen aus dem Gesicht. So weckt sie mich jedes Jahr. Jede Ernte. Doch dieses Jahr ist anders. Normalerweise werden die Tribute gezogen. Auf Zetteln stehen unsere Namen. Aus einer Glaskugel wird ein Mädchen, und aus einer anderen ein Junge gezogen, die dann ins Kapitol und in die Arena müssen.
Jetzt werden die Tribute gewählt. Das fand in der letzten Woche statt. Heute hören wir die Ergebnisse. "Guten Morgen, meine kleine Große." Begrüßt meine Mutter mich liebevoll. Ich lächele sie müde an. "Warst du heute Nacht wieder draußen?" Fragt sie. Ich nicke leicht. Sie lächelt ebenfalls.
"Wie viel Uhr ist es?" Frage ich sie. "Sieben Uhr. In zwei Stunden hören wir das Ergebnis." Sagt sie. Dann steht sie auf und geht zu meinem kleinen Bruder. Ich stehe ebenfalls auf und mache mein Bett.
"Du kannst dich waschen, dein Kleid liegt im Badezimmer." Erklärt meine Mutter. Ich nicke und gehe durch den Flur in das Badezimmer. Unser Haus ist recht groß. Hier, in Distrikt 2, haben fast alle genug Geld für Kleidung, Essen und eine Unterkunft. Es geht uns allen gut, und da hier Bergbau betrieben wird und die Hauptberufe Steinmetz und Maurer sind, bestehen die Häuser alle aus Backsteinen und sind sehr stabil. Nicht so in dem äußeren Distrikten, zum Beispiel zwölf, elf, zehn, neun... Den Leuten dort geht es, laut unseren Lehrern, sehr schlecht und fast alle müssen hungern. In zehn und elf müssen sie fast alle Produkte, die sie herstellen, ans Kapitol liefern. In zwölf wird Kohle angebaut, und die ist leider nicht sehr gefragt. Da kann es schonmal vorkommen, dass, ganz ausversehen, eine Miene in die Luft gesprengt wird. Ich kann bei so etwas nur den Kopf schütteln.
Mittlerweile habe ich mich ganz ausgezogen und steige in eine Wanne und beginne, mich abzuwaschen. Auch solchen 'Komfort' wie warmes Wasser oder Seife können nur wir geniessen. Nach zehn Minuten schrubben bin ich fertig. Ich steige aus der Badewanne, trockne mich ab und ziehe meine Unterwäsche an. Dann schaue ich auf das Kleid, welches meine Mutter mir rausgelegt hat. Es ist fast ganz weiß und hat sogar ein wenig weiße Spitze am Rand, welcher rot ist. Dazu kommen leicht kitschige Puffärmel, die aber sehr gut zum Kleid passen. Auch die Ränder der Ärmel sind rot. Ich mag es auf anhieb. "Gefällt dir dein Kleid, Heleyn?" Höre ich meine Mutter rufen. "Es ist so schön!" Antworte ich. Selbst sowas ist für Distrikt zwei ungewöhnlich. Ich glaube, es hat viel Geld gekostet. Ich ziehe es an und meine Mutter hilft mir, die Knöpfe zu schließen und aus zwei roten Bändern an meinem Rücken eine Schleife zu machen. Ich begutachte mich im Spiegel. Das Kleid ist so wunderschön. "Du bist eine einzige Schönheit!" Höre ich eine Männerstimme hinter mir.
Mein Vater. Ich lächele. "Vielen Dank." Meine Mutter kämmt die ersten Strähnen meiner blonden Locken zurück und mach sie mit einer Haarspange an meinem Hinterkopf fest. Die Spange glitzert silbern im fahlen Licht, welches durch die Fenster scheint. Einmal drehe ich mich vor dem Spiegel. Meine Eltern stehen stolz hinter mir. "Vielen Dank!" Sage ich zu ihnen und umarme sie. Dann verdunkelt sich meine Miene. In zehn Minuten ist es neun Uhr. Wir müssen jetzt losgehen. Meine Mutter weiß, woran ich denke, und nimmt meine Hand. "Es wird alles gut." Flüstert sie. Ich sehe, dass sie fast weint. Wieder kommt mir der Satz in den Sinn, der mich die ganze Nacht begleitet hat. Ich werde es nicht. Das sage ich ihr auch so. "Habe keine Angst. Ich werde es nicht." Dann müssen wir loslaufen. Auch mein kleiner Bruder Jeyden muss mit. Ich lasse meinen Blick über die Landschaft gleitet, die großen Berge und unseren Stützpunkt, einen riesigen Felsen mitten im Distrikt. Viel zu schnell kommen wir vor dem Justizgebäude an. Viele Leute haben sich schon versammelt, vor drei Tischen stehen viele Kinder an. Ich stelle mich zu ihnen. Gleich wird mir in den Finger gepiekst, da die Leute vom Kapitol etwas Blut brauchen, um mich zu erkennen. Meine Eltern und mein Bruder müssen sich zu den anderen Familien stellen. Jede Einzelne von ihnen könnte in wenigen Minuten zerstört sein. Und vielleicht auch meine. "Der Nächste!" Spricht mich die Frau am Tisch an. Ich halte ihr meinen Finger hin, sie sticht hinein und hält in auf das Papier. Der Schmerz ist nur kurz und der Stich nicht tief. Ich ziehe meinen Finger zurück und die Frau hält ein Gerät über den Bluttropfen, der ihn scannt. Dann wird mein Nachname, mein Name, mein Alter und mein Distrikt angezeigt.
Schnell gehe ich weiter. In der Menge entdecke ich eine Gruppe von Mädchen, die mich zu sich winken. Ich gehe zu ihnen und begrüße sie. Sie sind in meiner Klasse und ebenfalls auf der Akademie. "Hallo Heleyn! Auch schon hier?" Grinst mich ein braunhaariges Mädchen namens Joëlle an. Ich lächele. Ein anderes, dunkelblondes Mädchen das Yelia heißt, stößt mich an. "Pass auf, es geht gleich los. Oh man, irgendwie hoffe ich, das ich gewählt wurde. Ich bin so gut vorbereitet!" Ich höre nur noch halb zu und lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Er bleibt an einem Jungen hängen. Ich kenne ihn, Er ist in meinem Alter. Auch auf der Akademie. Er ist groß und kräftig, dazu hat er braune Haare und grüne Augen. Und er heißt Seth.
"Achtung, es geht los!" Zischt Joëlle mir zu. Und tatsächlich kommt gerade Doloris Highwington auf sie Bühne. Sie ist seit vier Jahren Betreuerin und ich muss sagen, dass sie bei weitem nicht so schlimm ist wie andere Betreuerinnen. Sie hat hüftlange hellblonde Haare und graue Augen. Dieses Jahr trägt sie ein langes, goldenes Kleid und silberne High-Heels. Damit stolziert sie zum Mikrofon und lächelt uns an. Im Hintergrund erstrahlt das riesige Gebäude in Marmorweiß. Es sieht ein wenig aus wie ein alter Tempel. Eigentlich wunderschön. Rechts davor sitzen Bürgermeister mit Kind und Frau, links irgendwelche Vorsitzende. Statt zwei Glaskugeln, in dessen Mitte sich Doloris Highwington immer stellt, steht dort ein Rednerpult. Rechts am Justizgebäude ist eine Leinwand. Alles wird mit großen Scheinwerfern bestrahlt.
"Willkommen, Distrikt zwei!" Ruft Doloris auf einmal in das Mikrofon. Alle Leute jubeln. Ich klatschte nebenbei mit. Meiner Meinung nach soll sie endlich zum Punkt kommen... "Wir werden uns als erstes einen Film aus dem Kapitol, nur für euch, angucken!" Fährt sie fort. Schon ertönt eine tiefe Stimme, alle Blicke richten sich auf die Leinwand.
,,Krieg. Ein schrecklicher Krieg. (...)
Und so schworen wir uns als Nation, einen solchen Verrat nie wieder zu begehen. So schützen wir uns. So schützen wir unsere Zukunft." Während des Textes werden Bilder der Rebellion eingeblendet. Jeder Distriskt hat seinen eigenen Film. So wird die Ernte immer eingeleitet. Ein Applaus, dann fährt Doloris auch schon fort. "Also. Heute ist ein besonderer Tag. Viele von euch würden jetzt sagen, 'Ja klar, es ist Tag der Ernte.' Aber heute, heute ist das erste Jubel-Jubiläum! Fünfundzwanzig Jahre Hungerspiele!" Den letzten Satz schreit sie richtig und die Kinder rasten förmlich aus. Ich stehe stumm da, tue so als ob ich mich freue. Ich werde es nicht.

Die Tribute von Panem- Die 25. HungerspieleWhere stories live. Discover now