|5| Blut und Regen

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Wo bin ich? Wohin werden wir gehen? Fragen, die mir seit unzähligen Stunden durch den Kopf schwirrten und keine Antwort fanden, so sehr ich mich auch bemühte

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Wo bin ich? Wohin werden wir gehen? Fragen, die mir seit unzähligen Stunden durch den Kopf schwirrten und keine Antwort fanden, so sehr ich mich auch bemühte. Das Rauschen, das regelmäßige Rucken, das durch den Zug und durch meinen Körper fuhr, der bestialische Gestank und die Kälte waren längst nichts weiter als eine verschwommene Kulisse, die von meinen besorgten Gedanken weiter und weiter in den Hintergrund gedrängt wurde. Meine Angst konnte sogar das Knurren meines Magens zeitweise übertönen, bis der Hunger mit Schwindel, Schmerz und Übelkeit über mich hereinbrach.

„Hanna, gla-glaubst du, wir sind bald da?‟, drang die zitternde Stimme meiner Schwester zu mir herüber. Neben mir spürte ich das heftige Beben ihres zarten, völlig durchgefrorenen Körpers. Ich riss meinen Blick von der kleinen Kerbe im Boden los, die ich seit Minuten oder Stunden anstarrte, und wandte ihn besorgt ihren zarten Umrissen zu, die sich gegen die Dunkelheit sanft abhoben. Locken, die sich längst aus ihren Zöpfen zu lösen begannen, lugten unter dem Stoff ihrer Mütze hervor, die sie sich so tief wie möglich ins Gesicht gezogen hatte, um sich zu wärmen. Selbst ihre geschlossenen Augen waren halb verdeckt. Fest in ihren Mantel eingemummt, waren bloß ihre Stupsnase und ihre spröden Lippen, die unter dem stetigen Zähneklappern heftig zuckten, zu erkennen.

Leah war nur drei Jahre jünger als ich, doch erschien sie mir in diesem Moment wie ein kleines Mädchen. Frierend, ängstlich und doch voller kindlicher Zuversicht.
„Ich weiß es nicht‟, gab ich ehrlich zu. Denn jetzt, nachdem wir bereits eine Ewigkeit in diesem Waggon, der nicht besser als ein Viehtransporter war, auf engstem Raum mit Fremden gefangen waren, fiel es selbst mir schon schwer noch weiter stark zu sein und meiner kleinen Schwester weiterhin Mut zuzusprechen. Wäre sie nicht gewesen, hätte ich mich längst aufgegeben. Doch sie zwang mich dazu, zumindest nach außen hin zuversichtlich zu bleiben - ich musste sie schließlich beschützen.

„W-Wie la-lange sind wir sch-schon hier?‟, fragte sie leise und mir zerriss es fast das Herz, sie so schwach und ängstlich zu hören.
„Schlaf jetzt endlich, Leah. Du musst dich ausruhen‟, entgegnete ich sanft, nicht zuletzt, um ihren Fragen zu entgehen, auf die ich meist selbst keine Antwort wusste. Ihr Kopf sank gegen meine Schulter und ich strich ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bereits mit geschlossenen Augen, formten ihre Lippen noch ein kaum hörbares „Sing mir bitte etwas vor‟.

Blut und TinteWhere stories live. Discover now