|7| Ankunft im Nirgendwo

868 68 61
                                    


Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.


Letzte Woche feierte ich den Schabbes in Berlin im Kreis meiner Familie. Heute in einem stickigen Viehwaggon und im Nirgendwo. Niemandem wäre das „Schabbat Schalom" jetzt über die Lippen gekommen, das ich jahrelang ganz selbstverständlich ausgesprochen hatte, und mir schienen die Worte plötzlich auch ein bisschen fremder. Die Erinnerung an den Rest bis vor sieben Tagen jeder Erschütterung standhaltende Friedlichkeit ein bisschen ferner. Selbst jene an maminkes duftendes Tscholent, das trotz aller Mängel seit dem Krieg nichts an Köstlichkeit eingebüßt hatte, konnte ich in dem Gestank nach Schweiß, Angst und anderen Körperausscheidungen nicht aufleben lassen.


Es war besser so, das wusste ich, denn andernfalls hätte es mich zu sehr an die schmerzhafte Leere in meinem Magen erinnert. Und wäre es mir gelungen, mich zurück an den Tisch zu meinen Eltern zu versetzen, hätte ich bei der Rückkehr vieles an Lebensmut dort zurückgelassen.

„Ich sehe Gebäude!", rief eine junge Frau aus, in der ich Miriam von unserer Fahrt aus Berlin wiederzuerkennen glaubte. Köpfe ruckten in ihre Richtung, Menschen drängten sich an die Fenster. Diesmal nicht, um der drückenden Luft im Waggon zu entkommen, sondern um auch einen Blick darauf werfen zu können.

Lediglich der alte Mann zeigte keinerlei Reaktion. Nicht einmal ein Öffnen der Augen oder Zucken der Mundwinkel. In meiner Magengrube regte sich der Wunsch, nach ihm zu sehen, doch die dunkle Ahnung, die sich mir aufdrängte, hielt mich fest an meinem Platz.

Ein Bild von Asche, Scherben, Blut und toten Augen blitzte vor mir auf – Schatten einer Nacht, die ich längst hatte vergessen wollen.
Mit ihnen schlich sich die Angst zurück in meine Gedanken. Alles, was diese Menschen brachten, die ihr gestohlenes Kreuz über ihren Köpfen und Herzen trugen und seine Botschaft auf den Lippen, war Zerstörung. Und nie schien sie ihnen genug. Sie waren damals schon vor nichts zurückgeschreckt. Wie weit waren sie jetzt bereit zu gehen?

Ich zwang meinen Geist, sich davon abzuwenden und diese Erinnerung zurück in die Tiefen meines Bewusstseins zu verbannen, von wo sie soeben ausgebrochen war. Es wollte mir nicht gelingen.

Der Zug bremste abrupt, ließ diejenigen, die auf den Zehenspitzen stehend versuchten möglichst viel von der neuen Umgebung zu erkennen, taumeln und mangels Halt zu Boden stürzen. Schließlich hielt er an, das Zischen eines Untiers ausstoßend.
Irgendjemand stolperte rückwärts, stieg mir dabei unsanft auf die Füße und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder, bevor er auf mich hätte fallen können. Sofort beugte ich mich schützend über Leah. Eine Frau tat es mir bei ihrem Kind gleich.

Das Rucken ließ den sitzenden Mann zur Seite kippen. Doch er verschwand sogleich aus meinem Sichtfeld. Davor schoben sich die anderen, die einander wieder auf die Beine halfen, in einem Gewimmel aus Mänteln, Hüten, Kopftüchern und zerzausten Frisuren. Ich meinte, den dumpfen Aufschlag seines Kopfes auf dem Holz zu hören.

Blut und TinteWhere stories live. Discover now