1. Prolog

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Lässig lehne ich mit dem Rücken an der kühlen Ziegelsteinmauer und vergrabe eine Hand in meiner Jeans, während ich die andere meiner Freundin entgegenstrecke.

„Jetzt gib schon her!"

Gina grinst, als sie mir die Schachtel hinhält und ich mir gierig eine Zigarette daraus greife.

Während ich mir die Kippe zwischen die Lippen stecke und mit Ginas Feuerzeug anzünde, verteilt sie auch welche an Marie und Kiara.

Gina ist ein Jahr älter als wir, also schon 16, aber sie geht locker als 19 durch, weswegen sie am Kiosk mühelos Zigaretten bekommt.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und sofort ist die Ecke hinter der Turnhalle in dunkle Schatten getaucht. Es wird noch kälter, als es für diesen Oktobermorgen sowieso schon ist.

„Scheiße. Ich hasse den Winter", murmelt Marie und bläst eine Rauchwolke in die Luft vor uns.

„Ich auch", stimme ich zu und ärgere mich ein klein wenig, dass ich keine dickere Jacke angezogen habe. Aber aufgeplusterte Winterjacken sind nun mal nicht in Mode, also schlinge ich mir so gut es geht mein schwarzes Stoffjäckchen um den Körper.

Ich muss zugeben, dass ich auch sonst nicht gerade unattraktiv aussehe: Schwarzes, glattes Haar bis zum Bauchnabel, blaue Augen, weiße Haut und eine zierliche Figur für meine Ein-Meter-Siebzig. Ich weiß, dass ich auf viele Jungs eine anziehende Wirkung habe, und genau das genießen meine Freundinnen und ich. Man könnte sagen, wir sind die Coolen aus unserer Klasse, und das kosten wir auch voll aus.

„Hey Mädels." Maik, ein Junge aus der Abschlussklasse kommt mit zwei Kumpels um die Ecke und gesellt sich zu unserem kleinen Grüppchen dazu. Auf dem Schulhof herrscht strengstes Rauchverbot, vor allem für uns Minderjährige, aber hier kommt fast nie ein Lehrer vorbei.

Maik und seine Jungs zünden sich nun ebenfalls Kippen an, dann stehen wir schweigend beisammen, bis er plötzlich sagt: „Ich schmeiß ne Party am Samstag. Wär cool wenn ihr kommt."

Oh mein Gott! Wir wurden ja schon öfters zu Partys eingeladen, aber ganz sicher nicht von den Schulältesten. Die wissen zwar, wie cool wir sind, wissen aber auch, dass wir eigentlich noch nichts trinken dürften.

Maik ist ein Idiot, zwei Mal sitzengeblieben und dämlich wie ein Stück Brot, aber trotzdem ein korrekter Typ. Welches Mädchen träumt nicht davon, auf seiner Party eingeladen zu sein?

„Klar kommen wir", antworte ich deshalb so cool wie möglich.

„Cool."

Wir rauchen noch eine zweite Zigarette, während wir ein bisschen über Schule und sowas quatschen.

Dann schellt es und wir machen uns langsam auf den Weg zum Schulgebäude zurück.

„Hi, Julie!"

Verwundert bleibe ich vor unserem Klassenraum stehen und drehe mich um.

Die Stimme gehört einem Jungen aus der Parallelklasse. Ich kenne ihn nur ein wenig vom sehen. Früher hatten wir zusammen Religions- und Französisch-Unterricht, aber ich habe nicht viel mit ihm zu tun gehabt.

„Was willst du, Felix?", frage ich leicht genervt. Der Lehrer ist zwar noch nicht da, aber trotzdem habe ich keine große Lust, draußen auf dem Flur mit irgendwelchen Loosern zu reden.

Und Felix gehört definitiv dazu. Er ist riesig für seine 15 Jahre, trotzdem wirken seine Bewegungen komisch, als wüsste er nicht, wohin mit seinen langen, dürren Armen. Die blonden, kurzen Haare, kleben ihm dicht an der Kopfhaut und Pickel hat er auch. Außerdem grinst er mit seinen schiefen Zähnen wie ein Geisteskranker, als er in diesem Moment vor mir steht. Richtig gruselig.

Es heißt weiterhin, dass er einen behinderten Bruder hat. Geistig zurückgeblieben, ADHS, oder irgend sowas in der Art. Hat wohl schon öfters andere verprügelt. Man sagt, die sind alle ein bisschen merkwürdig.

„Ich wollte dich fragen, ob-" In diesem Moment kommen Marie, Kiara und Gina aus dem Klassenraum zurück in den Flur.

„Was ist los, Julie?", fragt mich Kiara und mustert dabei Felix von oben bis unten. „Was will der denn von dir?"

„Looser-Alarm", zischt Gina und Marie kichert.

Ich sehe mein Gegenüber erwartungsvoll an. „Ja, was wolltest du mich fragen?"

„Naja, äh..." Als Felix in vier neugierige Augenpaare blickt, wird er wohl doch etwas unsicher. Sein Grinsen fängt an zu beben.

„Ich wollte fragen, ob du... Ich habe am Wochenende einen kleinen Auftritt auf einer Party. Die spielen da Deutschrap und so. Ich weiß, dass du die Musik magst, darum hab ich gedacht, du hättest vielleicht Lust zu kommen." Er sieht erleichtert aus, als er es endlich ausgesprochen hat und schaut mich nun voller Hoffnung an.

„Maiks Party?", fragt Marie stirnrunzelnd.

„Was für ein Maik?", fragt Felix zurück und Marie nickt verstehend.

„Alles klar", sie macht eine abwertende Handbewegung, „wahrscheinlich so eine Teenie-Fete."

Ich aber bin echt überrascht. Woher weiß Felix von meinem Musikgeschmack? Und warum fragt er gerade mich, wo wir doch eigentlich nichts miteinander zu tun haben?

„Komm, Julie, wir verschwinden." Gina packt mich am Ärmel und dreht sich Richtung Klassenraum. Von weitem sehen wir unseren Englisch-Lehrer am anderen Ende des langen Flures auf uns zukommen. Felix steht immer noch vor uns, die langen Arme baumeln hilflos neben seinem dünnen Körper.

„Äh..." Ich bin etwas perplex und weiß nicht so recht, was ich antworten soll, ohne ihn zu verletzen. Obwohl mir das ja eigentlich egal sein könnte.

Aber irgendwie ist er mir in diesem Moment schon ein bisschen sympathisch.

„Also?", hakt er nach.

Ich blicke unauffällig zu meinen Freundinnen hinüber. Diese schauen den Jungen an, als wäre er ein widerliches Insekt, das es gewagt hat, uns ohne Erlaubnis anzusprechen.

„Verschwinde", sagt Marie, ehe ich den Mund öffnen kann, „Julie hat am Wochenende besseres zu tun, als mit Idioten wie dir abzuhängen."

Mit großen Augen starrt Felix zuerst sie, dann mich an. Ich blicke bloß stumm zurück, unfähig, etwas dagegen zu erwidern.

„Tut mir Leid", sage ich schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit. Unser Lehrer ist jetzt bei uns angekommen und gibt uns mit einer Geste zu verstehen, dass wir unser Gespräch besser beenden und uns auf unsere Plätze begeben sollten.

In Felix' Augen sehe ich kurz etwas wie Enttäuschung aufblitzen. Dann sagt er: „Schon okay" und dreht sich um, ehe er langsam den Weg zu seinem Klassenraum geht.

„Ach du Scheiße. Hast du etwa was mit dem zu tun, Julie? Ganz ehrlich!" Gina hat endlich mein Handgelenk losgelassen und steht jetzt mit verschränkten Armen vor mir. An ihrem Lächeln kann ich jedoch erkennen, dass sie nicht wirklich eine Antwort auf ihre Frage erwartet.

Ich lache kurz auf. „Ist das dein Ernst?"

Meine Freundinnen und ich stoßen uns kichernd an, dann sage ich: „Aber irgendwie ist er ja schon ein bisschen süß."

Gina lacht. „Wenn ‚süß' das neue Wort für ‚zurückgebliebener Looser' ist, dann: Ja! Er ist verdammt süß!"

Kiara und Marie lachen ebenfalls laut auf.

Ich aber schaue dem Jungen hinterher, der mit hängenden Schultern den Korridor entlangläuft, und hoffe, dass er diesen Satz nicht mehr gehört hat, auch wenn Gina ihn extra laut ausgesprochen hat.

Ich weiß nicht genau, was. Aber irgendwas hat dieser Felix an sich, was mich neugierig macht, auch wenn er auf den ersten Blick wie jemand aussieht, mit dem ich mich nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen will.

Schließlich hat es viel Anstrengung, Make Up und Zigaretten gekostet, bis ich endlich von den coolen Jungs anerkannt wurde. Und das will ich mir nicht kaputt machen, indem ich mich mit Leuten abgebe, über die jeder lacht.

Natürlich werde ich nicht zu Felix' Party gehen, denke ich, während mich Kiara, Marie und Gina, immer noch über den blöden Spruch lachend, in den Klassenraum ziehen. Obwohl ich wirklich gerne nochmal darüber nachgedacht hätte.

12 Jahre späterWhere stories live. Discover now