Louis

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Ryans Schultern sanken herab. Beinahe traurig sah er mich an, dann drehte er sich um und verschwand aus dem Mädchenklo. Ich spürte einen Stich im Bauch. Wollte ich überhaupt, dass er mich in Ruhe ließ?

„Ryan...", rief ich ihm hinterher und er blieb stehen. Scheiße, was sollte ich denn sagen? Ich wusste nicht, ob ich ihm verziehen hatte. Konnte ich ihm schon verzeihen? Er drehte sich um, mit ein paar schnellen Schritten stand er direkt vor mir. Das Eis in seinen Augen schien zu schmelzen, als er vorsichtig seine Hand hob und mir eine Strähne aus dem Gesicht strich.

„Es tut mir leid. Bitte verzeih mir..." Ich seufzte schwer. Seine Augen brachten mich wie immer völlig aus dem Konzept. Ich versank in ihnen und die Zeit blieb stehen.

Das Schrillen der Glocke riss uns aus dem Bann, der sich über uns gelegt hatte. Ich schüttelte den Kopf und es erschien mir, als würde die Benommenheit nur langsam von mir abfallen.

„Lass mir etwas Zeit...", murmelte ich und ließ ihn stehen.

Ich kam zu spät zum Chemiekurs. Der Lehrer, der mich sowieso schon nicht sehr gut leiden konnte, musterte mich streng, komplementierte mich aber kommentarlos zu meinem Platz. Auf meinem Weg in die vorletzte Reihe merkte ich, wie mich der ein oder andere Mitschüler mit neuem Interesse musterte. Sie waren alle in der Mensa gewesen und hatten mitbekommen, dass Ryan meinetwegen Kyle geschlagen hatte. Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Eigentlich hatte ich es gemocht, unsichtbar für die meisten zu sein...

Chemie gehörte eindeutig nicht zu meinen Lieblingsfächern (was nicht unter anderem am Lehrer lag, nein...), aber in dieser Stunde hörte ich noch weniger zu als sonst.

Warum hatte es mich so verletzt, dass Ryan so hässlich zu mir gewesen war? Ich war doch schon oft so behandelt worden, auch von ihnen schon, und hatte eigentlich eine dicke Mauer um mich gebaut. So gut wie nichts hatte mich aus der Fassung bringen können, ich hatte alles mit Gleichmut ignoriert. Hatte Ryan es geschafft, einen Riss in diese Mauer zu schlagen? Hatte ich ihn gelassen?

Ich wusste einfach nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Und was hatte er mir vorhin damit sagen wollen? Er konnte mich nicht in Ruhe lassen, warum nicht? Warum war ich ihm nicht komplett gleichgültig?

Ich fand einfach keine Antwort auf all diese Fragen und das machte mich halb wahnsinnig. Ich war froh, als die beiden Stunden rum waren und ich endlich diese verdammte Schule verlassen konnte. Tyler war schon nach Hause gegangen und der Himmel wusste, wo Mary war. Nachdem ich zehn Minuten auf sie gewartet hatte, wurde es mir zu viel und ich machte mich allein und schlecht gelaunt auf den Weg nach Hause. Die konnte was erleben, wenn sie mir unter die Augen kam. Sie hätte doch wenigstens Bescheid sagen können.

Auf dem Weg nach Hause kaufte ich ein und betrat mit schweren Tüten die Wohnung. Tyler sah eine Actionserie und hatte Lily und David erlaubt, mitzuschauen. Als ich mich durch die Tür schob, sprangen sie schnell auf und verschwanden in ihrem Zimmer. Sie wussten genau, dass ich dagegen war, wenn sie so viel schauten. Ich schimpfte ein bisschen mit Tyler, aber er zuckte nur mit den Achseln. Er wurde immer pubertärer. Was sollte ich nur mit ihm anfangen? War ich auch so gewesen in dem Alter?

Morgen hatten Ryan und ich die Präsentation über Populationsökologie und ich feilte noch etwas an meinen Karteikarten. Ich wusste nicht genau wieso, weil ich ja sowieso nicht aufs College gehen würde, aber ich hatte den Ehrgeiz, dass ich gut sein wollte. Der restliche Nachmittag ging für Hausaufgaben drauf. Es war erstaunlich wie viel Zeit ich auf einmal hatte, wenn ich nachmittags nicht mehr im Supermarkt arbeiten musste. Allerdings hätte ich trotzdem lieber im Supermarkt weitergearbeitet.

Als es halb sieben wurde und Mary immer noch nicht aufgetaucht war, begann ich mir Sorgen zu machen. Wo war sie nur nach der Schule hin gegangen? Oder fiel mir das nur auf, weil ich sonst nachmittags immer gearbeitet hatte?

Tyler zuckte auf meine Nachfrage nur mit den Schultern.

„Sie ist in der letzten Zeit öfter mal weg gewesen..." Er war die Ruhe selbst. Ich seufzte und machte mich in der Küche daran, Gemüsecouscous zum Abendessen vorzubereiten. Ich war gerade dabei, die Paprika in kleine Stücke zu hacken, als ich die Tür aufgehen hörte. Mary kam nach Hause!

Ich wollte schon aus der Küche ins Wohnzimmer laufen und sie fragen, wo sie so lange gewesen war, als ich hörte, dass sie sich mit jemandem unterhielt. Ich hielt in meiner Bewegung inne. Wen hatte sie mitgebracht? Doch ich musste mich das nicht lange fragen, denn sie kam in die Küche und ratet mal, wen sie hinter sich herzog...

Genau, Louis. Der Typ wegen dem sie unbedingt auf Kyles Party hatte gehen müssen. Er sah nicht unbedingt schlecht aus und lächelte nun etwas schüchtern, als sie ihn mir vorstellte.

„Hey Liz, das ist übrigens Louis, mein... äh... Freund", sie gluckste, als könne sie es selbst nicht so ganz glauben, und ihre Augen strahlten, als sie ihn von der Seite ansah. Ich legte langsam das Messer beiseite. Mary zuliebe riss ich mich zusammen und gab Louis die Hand.

„Hey Louis, schön dich mal kennen zu lernen." Er lächelte erleichtert und begrüßte mich.

„Bleibst du zum Abendessen?", fragte ich ihn dann. Er zuckte mit den Schultern und sah Mary fragend an. Sie wiederrum schaute mich an.

„Haben wir denn genug da?" Ich nickte und meinte, dass ich vorhin erst einkaufen gewesen wäre.

Kurz später verschwand sie in unserem Zimmer, um sich ein anderes Oberteil anzuziehen. Louis blieb solang in der Küche. Nachdem was ich bis jetzt von ihm mitbekommen hatte, schien er ziemlich nett zu sein, aber Mary war immer noch meine kleine Schwester...

„Okay, nun zu einem ernsten Thema...", sagte ich zu ihm, sobald Mary die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er schaute mich an und ich sah, dass er nicht sofort wusste, was ich von ihm wollte.

„Wenn du ihr wehtust, schneid ich dir mit diesem Messer deine Eier ab!", drohte ich ihm und rammte das Messer in das Holzbrett. Er wurde bleich. Anscheinend sah ich bedrohlich genug aus, dass er in Erwägung zog, dass ich es ernst meinte.

„Ja klar, äh, mach ich nicht, versprochen!", stotterte er und ich grinste zufrieden.

„Gut so, dann kannst du bei uns essen."


The dark inside meWhere stories live. Discover now