Kiss me

26K 1K 49
                                    

Die zwei Wochen bis zu den Weihnachtsferien verbrachte ich in einem seltsamen Schwebezustand. Die letzten Klausuren vor den Ferien standen an und ich musste überlegen, wie wir Weihnachten feiern sollten. Letztes Jahr hatte sich noch Mutter drum gekümmert, dieses Jahr blieb auch das an mir hängen, zum Glück hatte ich Mary, die mir half. Gleichzeitig wurde das Wort ‚Wochenende' für mich zu einem Synonym für ‚Müdigkeit'. Ich schaffte es nie, meinen Rhythmus schnell genug umzustellen, und so war ich nachts im Club müde, wachte am nächsten Tag zu früh auf und war dann den gesamten Tag über müde. Montags war es am schlimmsten.

Ich sah Ryan zwar jeden Tag in der Schule, doch zwischen den Stunden redeten wir nicht viel miteinander. Unsere Englischlehrerin Ms. Hobbs beschloss, erst noch eine Klausur zur Lyrik zu schreiben, bevor wir uns gänzlich dem neuen Buch zuwenden würden, was dazu führte, dass wir erst nach den Weihnachtsferien mit Partnerarbeit anfangen würden. Aber in den Mittagspausen, wenn wir uns in meinem Versteck in der Bibliothek trafen, konnten wir wirklich miteinander reden. Das war immer die beste Zeit des Tages, wenn man sich vor dem Fenster niederließ und sich in ein Gespräch über die Welt vertiefte.

Einmal kamen wir darauf, was wir nach der Schule machen wollten und ich erfuhr, dass Ryan eigentlich so schnell wie möglich aus Philly wegwollte. Er wollte am liebsten nach New York, oder wenigstens nach Washington, zum studieren. Aber er meinte, das wäre sehr unwahrscheinlich, weil sein Vater wollte, dass er hier in Philly blieb. Also würde er wahrscheinlich hier aufs College gehen.

Ryan zögerte, bevor er mich fragte, was ich nach der Schule machen wollte. Er schien schon zu wissen, dass die Antwort nicht ‚studieren' sein würde. Ich wusste selber nicht genau, was ich machen wollte. Wahrscheinlich würde ich zusätzlich zum Job im Dirty Love noch einen Zweitjob tagsüber annehmen. Irgendetwas Einfaches, wofür man keine große Ausbildung brauchte. Vielleicht würde ich wieder in irgendeinem Supermarkt arbeiten oder in einem Diner.

Ryan machte diese Antwort nachdenklich und er redete den Rest der Pause nicht mehr viel. Schweigend saßen wir nebeneinander und sahen aus dem Fenster. Doch es war keine unangenehme Stille zwischen uns. Eher so, als würden wir uns auch ohne Worte verstehen, ein für mich völlig neues und doch irgendwie schönes Gefühl.

Am letzten Schultag vor den Ferien herrschte in der gesamten Schule eine angespannte, aufgeregte Stimmung. Alle, Schüler sowie Lehrer, warteten darauf, dass das letzte Klingeln sie in die Ferien entlassen würde. Auch ich ließ mich von der Aufregung anstecken und hüpfte euphorisch auf und ab, als ich nach dem letzten Klingeln meine Sachen zusammenpackte. Zwei Wochen ausschlafen! Und mindestens eine Woche jeden Abend arbeiten, bremste ich mich wieder aus. Aber vielleicht ließ sich das auch besser aushalten, wenn ich danach immer ordentlich schlafen konnte.

Ryan lachte mich aus, als er mich hüpften sah und ich schlug ihm spielerisch auf den Arm. Gemeinsam liefen wir zum Ausgang und mir wurde erst jetzt klar, dass ich ihn die nächsten zwei Wochen nicht sehen würde. Irgendwie verdarb mir das ziemlich die Stimmung. Ich fühlte mich wie eine Süchtige, die die nächsten zwei Wochen auf ihr Crack verzichten muss.

Ich weiß nicht, ob es Ryan auch so ging, aber als das Schultor näher kam, wurden wir immer langsamer und blieben schließlich ein paar Meter davor stehen. Verlegen sahen wir uns an und dann schnell wieder weg. Um uns herum strömten Schüler in die Freiheit. Ich wusste, Mary und Tyler warteten schon auf der anderen Seite auf mich. Trotzdem wollte ich auf keinen Fall durch das Tor gehen. Denn wären wir erstmal auf der anderen Seite, musste ich mich von Ryan verabschieden, wir würden in zwei verschiedene Richtungen laufen und es würde sich irgendwie endgültig anfühlen.

„Krieg ich deine Handynummer?", fragte Ryan plötzlich und riss mich aus meinen niedergeschlagenen Gedanken. Ich lachte kurz erstaunt auf, als mir auffiel, dass wir unsere Handynummern nicht hatten. Als ich seine Nummer in mein Handy eingespeichert hatte, fühlte ich mich ein bisschen besser. Wenn ich mich in den nächsten Wochen allein fühlen würde, könnte ich ihm einfach schreiben.

Ryan zog mich in eine lange Umarmung und ich schloss die Augen und genoss seine Nähe. Er roch so wundervoll und es fühlte sich so schön an, seine starken Arme um meinen Oberkörper, mein Gesicht an seine Schulter gekuschelt. Eine gefühlte Ewigkeit, und doch nicht lang genug, standen wir dort.

Schließlich lösten wir uns voneinander. Die Zeit war nicht stehen geblieben. Wir mussten beide nach Hause. Er würde heute Abend noch fliegen und ich musste um 8 Uhr wieder im Dirty Love sein. Verzweifelt starrte ich ihn an. Wie gern wäre ich mitgekommen. Dann hätte ich die beiden Wochen mit Ryan und Devil verbringen können. Ryan starrte zurück und in seinen Augen spiegelte sich die gleiche Niedergeschlagenheit, die ich auch empfand.

Langsam hob er seine Hand und strich zärtlich über meine Wange. Mein Herz machte einen Sprung, nur um danach doppelt so schnell weiter zu schlagen. Wie in Trance traten wir wieder einen Schritt aufeinander zu. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine kirschroten Lippen so nah, und unsere Augen hielten sich gegenseitig gefangen. Irgendwo hatte ich gelesen, die Augen seien das Fenster zur Seele eines Menschen und hier, in diesem Augenblick, sah ich die Wahrheit dieser Aussage.

Ich wusste, was er tun würde, bevor er es tat, und so beugte ich mich gleichzeitig mit ihm vor und wir schlossen den Abstand zwischen uns. Mein Herz blieb stehen. Es war unbeschreiblich. Als unsere Lippen sich berührten, durchströmte mich ein Gefühl der Glückseligkeit, welches ich noch nie gefühlt hatte. Ich fühlte mich wie elektrisiert. Diesmal hielt die Zeit an und wir standen inmitten der Unendlichkeit, mit geschlossenen Augen, hielten uns fest umschlungen und küssten uns.

Irgendwann, nach einer kleinen Ewigkeit, wichen wir zurück. Seine Hände sanken herab. Seine Augen glänzten und seine Lippen standen einen Spalt weit offen. Erst jetzt spürte ich die Hitze in meinem Gesicht. Ich wollte gern etwas sagen, doch mein Kopf war wie leer gefegt.

„Ähm, also bis dann, wir sehen uns..." Ryan ging es anscheinend nicht so. Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ mich inmitten eines riesigen Gefühlschaos zurück.


So das wars mal wieder, ich hoffe es gefällt euch. Was haltet ihr vom ersten Kuss zwischen Liz und Ryan? Und von seiner Reaktion darauf? Kommentieren und Voten nicht vergessen, bis dann ;)

The dark inside meWhere stories live. Discover now