Ocean

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Ryan holte mich Sonntag morgens um neun Uhr ab. Ich hatte auch diese Nacht arbeiten müssen und dementsprechend müde war ich. Ich hatte gerade einmal vier Stunden Schlaf bekommen und hatte furchtbare Augenringe. Bei den Augenringen konnte mir Mary ein bisschen mit einem Abdeckstift helfen, gegen die Müdigkeit hingegen konnte auch sie nichts ausrichten.

Als Ryan fast pünktlich um zehn nach neun Uhr bei uns klingelte, konnte ich ein Gähnen nicht unterdrücken, als ich ihm aufmachte. Ryan lachte, dann knuddelte er mich und ich freute mich, dass er da war.

Er hatte ein großes Geheimnis daraus gemacht, wohin es gehen würde und so war ich irgendwie überrascht, sein Auto an der Straße stehen zu sehen. Ich hatte erwartet, wir würden hier in Philly bleiben. Es war jedoch offensichtlich sein Auto. Ich wusste, dass niemand sonst in dieser Straße genug Geld für einen dermaßen schicken Ford Mustang hatte. Beeindruckt und fast ein bisschen ehrfürchtig fuhr ich über die glatten Ledersitze. Ryan glitt elegant hinter das Lenkrad. Er musste grinsen, als er meinen Blick sah. Er schien sehr stolz auf das Auto zu sein.

„Gefällt es dir?" Ich nickte. Er grinste noch breiter und drehte den Zündschlüssel. Mit einem tiefen Brummen erwachte der Motor zum Leben und wir fuhren los.

Ryan gab mir sein Handy, damit ich die Musikauswahl übernahm. Ich wählte ein etwas ruhigeres Stück von Rise against aus und summte leise mit.

„Wohin fahren wir?", versuchte ich nochmal mein Glück, vielleicht würde er es mir jetzt verraten. Doch er schüttelte nur lachend den Kopf.

„Verrate ich dir auch weiterhin nicht. Du siehst es noch früh genug, wenn wir da sind..."

Nach einigen Minuten fuhren wir auf den Highway und ich lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Die letzte Nacht hatte mich furchtbar geschlaucht und es war schön, mit Ryan zusammen im warmen Auto zu sitzen. Er war ein guter Fahrer, soweit ich das beurteilen konnte, und ich fühlte mich sicher bei ihm, was irgendwie ironisch war, wenn man bedachte, dass er mir auch schonmal ein Messer an die Kehle gehalten hatte.

Obwohl ich es nicht wollte, fielen mir langsam die Augen zu und noch bevor wir die Gegend um Philly verlassen hatten, schlief ich tief und fest.

Ich wachte durch ein leichtes Rütteln an der Schulter wieder auf. Ryan hatte sich zu mir herübergebeugt und weckte mich auf. Ein Blick auf das Armaturenbrett verriet mir, dass ich nochmal fast anderthalb Stunden geschlafen hatte. Inzwischen war es halb elf Uhr.

„Wir sind da", wisperte Ryan mir zu und ich sah aus dem Fenster. Wir fuhren durch eine Kleinstadt, falls man es überhaupt noch so nennen wollte. Ich sah haufenweise Shops, die Segelbedarf oder Taucherausrüstung anboten. Auch Läden mit Badekleidung gab es, doch die hatten offensichtlich geschlossen, was im Januar kein Wunder war. Mir kam ein wundervoller Gedanke. Ich wollte jedoch noch nicht so recht daran glauben. Doch schließlich hielt Ryan auf einem Parkplatz und als ich ausstieg, schmeckte ich das salzige Meer in der Luft.

Der Wind fuhr mir in die Haare und wirbelte sie durcheinander. Ich fing unwillkürlich an zu strahlen. Es war ein kalter Tag und der Himmel war wolkenbedeckt, trotzdem konnte ich es kaum erwarten, zum Strand zu gehen.

Ryan nahm seinen Rucksack aus dem Auto, dann gingen wir nebeneinander zum Strand. Das scharfe Gras der Dünen wogte um unsere Beine und ich drängte voran. Ich wollte endlich das Meer sehen.

Ich hatte das Meer erst einmal gesehen und damals war ich vielleicht zehn gewesen. Meine Eltern hatten damals lange für diesen Urlaub gespart und wir hatten eine ganze Woche auf einem billigen Campingplatz in einem geliehenen Wohnmobil verbracht. Marc und ich waren jeden Tag im Meer baden gewesen, hatten Sandburgen gebaut und Unmengen an Eis verschlungen, das wir gönnerhaft mit Mary und Tyler geteilt hatten. Es waren mit die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit, die damals entstanden waren.

Als ich nun das Meer wiedersah, war es nicht mehr tiefblau, wie ich es in Erinnerung hatte, sondern war eher dunkelgrau und die Wellen schlugen hoch. Das Meer gebärdete sich so wild, wie ich es noch nie gesehen hatte. Trotzdem war ich begeistert. Ich konnte diese ungezügelte, kraftvolle Schönheit nicht anschauen, ohne tief zu seufzen.

Ryan und ich standen oben auf einer Düne und blickten über riesige Weiten unregelmäßigen Graus. Er sah mich von der Seite an, als er meinen Seufzer hörte.

„Ist alles in Ordnung?" Ich nickte.

„Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll", versuchte ich, zu erklären, „aber ich fühle mich endlich wieder lebendig..." Ich sah ihn an, ich fürchtete, er würde mich nicht verstehen. Doch er nickte bedächtig.

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst..." Er lächelte. „Hast du Lust auf einen Spaziergang?"

Wir liefen lange am Strand entlang und unterhielten uns dabei. Ab und zu streifte seine Hand meine und dann schoss immer ein Kribbeln durch mich hindurch. Es war wunderschön.

Irgendwann war mir so kalt, dass ich zitterte und Ryan meinte, wir sollten in ein kleines Restaurant gehen, uns aufwärmen und etwas essen. Als wir zu den Dünen hochstapften, streiften sich unsere Handrücken, doch statt auszuweichen, nahm Ryan meine kalte Hand und schloss sie in seine. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.

Am höchsten Punkt der Dünen blieben wir beide wie von selbst stehen. Ryan drehte sich zu mir, meine Hand hielt er weiterhin fest in seiner. Seine eisblauen Augen sahen mich ernst an. Wie immer hatte ich das Gefühl, ich könnte mich in ihnen verlieren, wenn ich nicht aufpasste. Mit seiner freien Hand fuhr Ryan sich fast schon verlegen durchs Haar.

„Ähm, Liz...", er stockte, atmete einmal tief durch, fing nochmal an, „könntest du dir vielleicht..." Ich runzelte die Stirn. Könnte ich was? Ryan seufzte auf. Ihm entwich etwas Ähnliches wie ein Lachen.

„Oh Mann, ich habe mir so lange überlegt, was ich sagen will, und jetzt habe ich alles wieder vergessen." Ich musste unwillkürlich lächeln ob seiner Verzweiflung. So kannte ich ihn fast gar nicht.

„Hey, alles gut", versuchte ich ihn zu beruhigen, wie von selbst bewegte sich meine Hand und ich verflocht sie mit seiner freien Hand, „tief durchatmen." Ryan lächelte fahrig, dann schloss er die Augen und atmete einmal tief ein und wieder aus. Als er die Augen wieder öffnete, waren sie glasklar.

„Liz, könntest du dir vielleicht vorstellen, meine Freundin zu sein?"

The dark inside meWhere stories live. Discover now