Entführung?

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„Dann holt ihr mal bitte eure Arbeitshefte raus und schlagt sie auf Seite 23 auf!“, forderte unser Erdkundelehrer uns auf und mit einem lauten Murren begann die ganze Klasse in ihren Rucksäcken zu kramen. Warum sagten sie überhaupt ‚Bitte‘, wenn sie uns sowie so dazu zwangen? Ich schüttelte den Kopf und zog das zerfledderte Ding aus meiner Schultasche. Schnell hatte ich die Seite gefunden und musste augenblicklich stöhnen. Erdbeben. Nicht schon wieder! Dieses Thema hatten wir nun wirklich schon oft genug durchgekaut. Mittlerweile wusste ich nicht nur, wie das mit der Plattenverschiebung lief, nein, ich wusste sogar schon die Namen der Platten auswendig und konnte ihre Lage benennen! Kaum hatten alle ihr Zeug draußen, begann unser Lehrer auch schon lauter uninteressante Sachen zu labern und mein Blick schweifte nach draußen und zu Melissa, meine beste Freundin, die dazu übergegangen war, sich mit Edding auf den Arm zu kritzeln. Den Kommentar mit den giftigen Schadstoffen sparte ich mir mittlerweile, weil sie sowie so nicht auf mich hörte.

Gerade wollte ich mich auf meinem Stuhl noch tiefer sinken lassen – Mann, ich hasste Freitage – da klopfte es an der Tür.

„Herein!“, brüllte sogleich Max aus der letzten Reihe. Dass er auch nie seine Klappe halten konnte. Unser Lehrer hatte aufgehört zu reden und lief zur Tür. Er öffnete sie ein Stück und fragte, was los sei. Überrascht wechselte er ein paar Worte mit den Leuten, die draußen standen und wandte sich dann wieder zu uns um.

„Julia Höchst?“, rief er plötzlich und machte eine auffordernde Handbewegung in meine Richtung, „Pack dein Zeug – du wirst zu deinem Termin abgeholt!“

Verwundert hob ich den Kopf und sah mich verwirrt um. Was für ein Termin? Melissa warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Langsam griff ich nach meiner Tasche und merkte sofort, dass ich die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse hatte. Als ich aufstand, traten die Besucher in den Raum und mir blieb beinahe das Herz stehen. Ein lautes Raunen ging durch die Klasse. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein? Mit einem Aufschrei sprang ich nach hinten und musste mich an der Bank festhalten.

„E-Ezio?“, fragte ich und sah dann zu dem anderen Mann, „Leonardo?“

„Francesco“, meinte Ezio lächelnd und deutete auf sich.

„Paolo“, sagte er dann und zeigte zu Leonardo. Jetzt verstand ich die Welt nicht mehr. Dort vor mir standen eindeutig Ezio Auditore und Leonardo Da Vinci, wenn auch in modernen Klamotten. Ich hatte echt zu viel AC 2 gespielt!

„Bitte, ich kann dir später alles erklären!“, raunte mir "Francesco" zu und griff nach meiner Tasche. Er rümpfte die Nase, als er auf Melissas geöffneten Edding blickte, den sie staunend in der Hand hielt. Ein bisschen sah es so aus, als wollte sie sich dahinter verstecken. Sofort erkannte sie die Geste und packte den Stift weg. Ich verstand das alles nicht. Entweder sahen die beiden den Charakteren aus AC nur verdammt ähnlich, oder ich wurde allmählich ganz eindeutig wahnsinnig! Und warum machte ich bei der Scheiße überhaupt mit? Das konnten maskierte Mörder sein, die mich kidnappen wollten! Doch auf der anderen Seite … warum sollten sie? Außerdem sahen die beiden so echt aus, dass an eine Maske nur schwer zu glauben war. Alle Blicke, außer der des Lehrers, klebten an uns, als wir den Raum verließen. Der schien mal wieder nicht zu checken, was gerade am Passieren war. Ein leiser Murmelton lag in der Klasse und ich meinte das Wort „schwul“ und „ihre beiden Väter“ hören zu können. Jetzt oder nie! Wann hat man denn schon mal Halluzinationen am helllichten Tag? Auf eine irre Art und Weise freute ich mich sogar auf diesen Wahnsinn. Mein Gehirn hatte meinem Tagtraum eine echt gute Grafik verliehen. Mehr wie ein Lemming folgte ich Ezio alias Francesco zur Tür, bei der Leonardo alias Paolo stand.

Kaum war die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, wandte ich mich an Ezio und wollte gerade mit den Fragen loslegen, als er mir seinen Finger auf die Lippen legte. Er hatte wohl schon damit gerechnet, dass ich gleich losplappernd würde. Er grinste triumphierend und seine Augen strahlten einen Glanz aus, den ich irgendwie vermisst hatte, auch wenn ich ihn nie zuvor in Echtzeit gesehen hatte.

Renaissance und zurückWhere stories live. Discover now