Rote Krawatten und Das Atelier

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Meine Gefühle verließen Stück für Stück Giulias Körper und ich merkte, wie ich mich immer mehr von ihr entfernte und schließlich ins Nichts trieb. Ich konnte plötzlich wieder meinen eigenen Körper spüren und fing endlich an, nur die Geräusche der realen Umgebung zu hören. Noch war alles schwarz und still um mich herum, doch langsam kam ich wieder zu Bewusstsein.

„Das ist bemerkenswert … sie ist sehr talentiert!“, sagte eine tiefe Stimme dicht neben mir und irgendjemand antwortete etwas.

All meine Sinne schienen sich wieder in mir zu versammeln und dann wachte ich auf. Die Welt um mich herum kam mir so unsäglich hell vor und ich fühlte, dass mein Schädel dröhnte. Stöhnend richtete ich mich auf und kniff meine Augen verwirrt zusammen.

Sofort war Alice da, um mich vom Animus zu trennen und mir hoch zu helfen.

„Oh Gott“, seufzte ich und stellte meine Füße auf den Boden. Ich brummte erschöpft und rieb mir mit der Hand über die Augen – der Animus hatte mich mehr Kraft gekostet, als ich zugeben wollte. Langsam blickte ich auf und erstarrte bei dem Anblick.

Vor mir stand nicht, wie ich vermutet hatte, Alice, sondern ein etwas älterer Mann in einem formellen Anzug mit roter Krawatte. Ich hatte keine Ahnung wer das war oder ob ich ihn mir nur einbildete, also starrte ich ihn einfach an. Ja, ich dachte darüber nach, ob es nur eine Einbildung war! Seit ich im Animus gewesen war, kam mir nichts mehr real vor, da ich gesehen hatte, was wirklich möglich war. Die Welt, die der Animus kreierte, war so realistisch, dass ich gar nicht wusste, ob ich nicht immer noch schlief.

„Nichts ist wahr …“, fiel es mir plötzlich ein und mein Mund klappte etwas auf. War das, was es bedeutete?

„… und alles ist erlaubt!“, erwiderte der Mann vor mir und ich zuckte erschrocken zusammen.

„Ganz ruhig“, meinte er, „ich bin bei den Guten! Du bist Julia Höchst, richtig? Sehr erfreut! Ich bin Andreas Kurz … auch ein Assassine.“

Mit diesen Worten streckte er mir die Hand hin, die ich ergriff und schüttelte. Er sah nicht aus wie ein Assassine – allerdings wusste ich mittlerweile, dass es auch einen Innendienst gab. Mein erster Gedanke bei seinem Aussehen war nämlich: Scheiße, die Templer haben mich!

Ich behielt ihn genau im Augen, während ich mich aufraffte und ein paar Schritte von ihm weg machte. Ich traute ihm nicht … warum auch immer.

Die Tür wurde aufgestoßen und Ezio kam rein. Er blieb überrascht beim Sofa stehen, nickte mir zu und lief dann zu diesem Herr Kurz. Ich entfernte mich ein wenig, als die beiden Hände schüttelten und dann über etwas zu reden begannen. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich nicht zugehörig oder nicht befugt, ihr Gespräch mitzuhören. Außerdem hatte sich das Gefühl verändert, das ich bei Ezios Anblick empfand. Die Begeisterung und das beschämte Aufschauen hatte sich in eine seltsame Art von Bewunderung gewandelt, mit der ich noch nicht recht etwas anzufangen vermochte. Vielleicht fühlte ich mich so, weil ich ihn Live und in Farbe in seiner Robe gesehen hatte und wie er einfach so perfekt in seiner echten Umgebung agierte. Der Ezio in unserer Zeit wirkte fast schon etwas schäbig, wenn man das Prachtexemplar aus der Renaissance betrachtete.

Ich hatte mich in Gedanken immer weiter von den beiden Assassinen entfernt und stand nun vor der Couch, auf die ich mich langsam sinken ließ.

„Wo wohnt Ihr, Novizia?“, schallte es durch meine Gedanken und ich zuckte innerlich zusammen. Mein Gott, hatte ich seine Stimme immer noch so klar und deutlich im Ohr?

„Na, alles okay?“, fragte eine Stimme neben mir und jemand stellte ein Glas Wasser auf den Tisch, der vor dem Sofa stand.

„Ja … sicher“, erwiderte ich und drehte mich zu Alice um. Sie hatte auf der einen Seite etwas von Rebecca, doch auf der anderen war sie sehr eigen – brachte viel von der russischen Mentalität mit. Ich warf ihr ein kurzes Lächeln zu und leerte das Glas hastig. Mir war gar nicht aufgefallen, was ich eigentlich für einen Durst hatte. Allgemein war ich noch nicht richtig wieder da – immer noch ein bisschen neben der Spur.

Renaissance und zurückWhere stories live. Discover now