Zu viel Fantasie

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Langsam trabte ich die Stufen in den dritten Stock hinauf. Ich intelligente Person hatte nach einem kleinem Vortrag über die Oberstufe die Blätter, die wir bekommen hatten, vor der Mädchentoilette liegen gelassen.

Also musste ich jetzt in der Zwischenpause wieder die ganzen Treppen hochlaufen.

Zumindest hatte mein Körper etwas davon.

Ich schnappte mir die DIN A4 Blätter und wollte mich wieder auf den Rückweg machen, als ich eine Bewegung vor den Jungentoiletten wahrnahm.

Eigentlich interessierte es mich nicht sonderlich, dennoch musste ich meinen Blick dorthin richten. Als ich erkannte wer dort war, vergaß ich für einen Moment zu atmen.

Es war Simon. Der Neue in unserer Jahrgangsstufe. Er war nicht nur eineinhalb Köpfe größer als ist, sondern sah auch noch umwerfend gut aus.

Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn begeistert anstarrte. Zum Glück war er gerade mit seinem klemmenden Rucksack beschäftigt und bemerkte von all dem nichts.

Plötzlich schrillte der Feueralarm über unseren Köpfen los und ich zuckte zusammen. Wir sahen uns kurz erschrocken an und liefen dann fast gleichzeitig los. Er war etwas hinter mir, da er noch einen letzten Versuch bei seinem Rucksack tätigte. Jedoch vergeblich.

Ich fühlte mich sofort besser, als ich spürte, dass er mir folgte. Denn ich wollte auf keinem Fall, dass ihm etwas passierte. Denn mir war klar, dass das hier kein Probealarm war, denn dieser war bereits vor zwei Tagen.

Komisch, dass außer uns keine anderen Schüler in diesem Stock waren. Wahrscheinlich hatten die ganzen Zehntklässler alle Sport. Schön für sie dachte ich neidisch, da wäre ich jetzt auch gerne.

Endlich sah ich das Treppenhaus, welches nach unten in die ersehnte Freiheit führte. Doch die Hälfte des Durchgangs stand bereits in Flammen und so rannte ich schnell hindurch. Simon tat es mir nach, doch da passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.

Er stolperte, stürzte und blieb dann regungslos am Boden liegen.

Entsetzt sah ich zwischen ihm und dem immer näher kommenden Feuer hin und her.
Was sollte ich bloß tun?

"Alles okay?", fragte ich vorsichtig, kniete mich neben ihn und erkannte Tränen in seinen Augen.

Wie konnte ich bloß so blöd fragen? Wenn ein Junge, wie er schon Tränen in den Augen hatte, dann war es schlimm!

"Nein! ", presste er mühsam hervor.

"Kannst du aufstehen?", wollte ich wissen und sah beunruhigt zu dem Feuer.

Er versuchte es kurz, doch er knickte sofort wieder ein.

"Komm stütz dich auf mich!", bestimmte ich, obwohl mir durchaus bewusst war, dass er viel zu schwer war.

Aber ich konnte ihn nicht hier lassen. Auf keinen Fall. Das würde ich mir niemals verzeihen können.

Tatsächlich nahm er mein Angebot an und wir schleppten uns einen Treppenabsatz nach unten. Dort ließ er sich zu Boden fallen.

"Hey, wir schaffen das!", versuchte ich ihn zu beruhigen und wunderte mich selbst über meine innere Ruhe.

Doch er antwortete nicht. Die Erleichterung, dass wir schon ein Stockwerk weiter unten waren, verflog, als sich das Holzgeländer des oberen Stockwerks löste und knapp neben uns herunter fiel.

Erschrocken zog ich Simon einige Meter von dem Brennenden Holz weg.

Dann redete ich weiter auf ihn ein, doch er schien keine Lebenslust mehr zu haben und ich wurde dadurch zunehmend verzweifelter.

"Du kommst jetzt sofort mit mir mit!", schrie ich ihn irgendwann völlig aufgelöst an.

Erstaunlicherweise gehorchte er. Kurz bevor wir den Ausgang erreichten, erkannte ich, dass uns von allen Seiten das Feuer einschränkte. Selbst hinter uns hatte es uns eingeholt. Wir waren gefangen!

"Was machen wir jetzt?", rief ich ihm zu und klammerte mich panisch an ihn.

"Keine Ahnung", antwortete er bloß.

Ich fing an um Hilfe zu schreien, vielleicht waren dort hinter dem Rauch Menschen, die uns helfen konnten. Wenn wir Glück hatten auch die Feuerwehr.

Doch irgendwann gab ich auf. Der Qualm kratzte in meinem Hals, ich bekam schlecht Luft und mir war leicht schwindelig.

Völlig entmutigt sank ich zu Simon auf Boden. Er blickte mich mit leeren Augen an. Ich erwiderte diesen Blick und schlang meine Arme um ihn.

Wenn ich hier schon sterben musste, dann ganz nahe bei ihm.

Mehrere Stunden später...

Ich öffnete meine schweren Augenlider und schaute mich in dem Raum mit den weißen Wänden um. Doch ehe ich mich weiter umsehen konnte, wurde ich von einem starken Hustenanfall geplagt.

Es stellte sich heraus, dass ich eine Kohlenmonoxidvergiftung hatte und dass ich damit noch ein paar Wochen hier im Krankenhaus bleiben musste.

Als die Ärzte mir das mitteilten fragte ich sie sofort nach Simon, doch sie ignorierten die Frage einfach. Wenn er es nicht überlebt hatte, hätten sie es mir doch gesagt? Aber was, wenn es so schlimm um ihm stand, dass sie nicht wussten, ob er durchkam? Dann kam sein Sturz natürlich auch noch dazu.

Mir ging es den Umständen entsprechend gut und ich war nicht mehr in Lebensgefahr.

Regelmäßig besuchten mich meine Eltern, meine Verwandten und meine Freunde.

Meine Freunde erzählten, was der Brand alles angerichtet hatte und dass sie vorübergehend keinen Unterricht hatten.

Eines Vormittags saß ich in meinem Krankenbett und blätterte gelangweilt in einem meiner Schulhefte. Ich hatte meine Eltern gebeten mir welche vorbei zu bringen, da diese Langeweile nicht mehr auszuhalten war und ich noch eine Woche in diesem öden Krankenhaus bleiben musste.

Plötzlich klopfte es an der Tür und erfreut über die Ablenkung rief ich: "Herein!"

Die Tür öffnete sich und ich traute meine Augen kaum. Simon kam mit Krücken herein gehumpelt. Erfreut und zugleich erleichtert sprang ich auf, lief auf ihn zu und umarmte ihn. Vorsichtig drückte ich ihn an mich.

"Was hast du?", fragte er mit etwas heiserer Stimme.

"Kohlenmonoxidvergiftung und du?", antwortete ich und stellte sogleich auch eine Gegenfrage.

"Ich auch", sagte er.

Dann gingen wir zu meinem Bett und setzten uns hin.

"Ich wollte mich noch bei dir bedanken, ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben", begann er leise. "Du hast einen klaren Kopf behalten und hast mich gerettet!"

"Ist doch selbstverständlich!", erwiderte ich gerührt und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ich hätte dich doch niemals in dem brennenden Schulhaus gelassen. Außerdem warst du verletzt!"

Ich spürte wie ich rot wurde und lehnte mich leicht an seine Schulter.

Die nächsten Minuten schwiegen wir beide vor uns hin. Sollte ich ihm von meinen Gefühlen zu ihm erzählen? Es wäre zumindest ein passender Moment.

Ich beschloss meinen ganzen Mut zusammen zu nehmen.

"Simon, ich muss dir was sagen", begann ich zögernd.

"Mhm?", machte er und sah mich neugierig an.

Schüchtern sah ich zu Boden und begann zu reden: "Ich liebe dich!"

Jetzt war es raus und er wird wahrscheinlich gleich aufstehen und gehen. Doch nichts geschah.

Vorsichtig sah ich wieder auf und blickte direkt in seine Augen, welche mich mit einem warmen Blick ansahen.

Er umarmte mich und flüsterte mir "Ich liebe dich auch" ins Ohr.

Dann küssten wir uns zärtlich.

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