Benzol

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Noch zehn Minuten dann war die Chemiestunde endlich vorbei. Aufgepasst hatte ich nicht wirklich, denn ich hatte heimlich unter der Bank mit meinem besten Freund Paul geschrieben und nun hatte ich nur noch 4 % Akku. Aber das würde reichen. In etwa 20 Minuten würde ich zuhause sein und das Handy ans Ladekabel anstecken können.

Kurz vor dem Gong, kamen Paul und ich auf meine 18te Geburtstagsparty und ob er tatsächlich die weite Anreise von über 800 Kilometer antreten wird. Ich merkte gar nicht, dass ich irgendwann auf dem Boden saß, da ich, damit bloß keiner merkt, dass ich am Handy war, mich immer mehr unter dem Tisch versteckte.

Irgendwann musste ich mit Erschrecken feststellen, dass ich alleine im Raum war. Wo waren die anderen? Hatte ich den Gong überhört? Wie konnte das nur passieren? Vielleicht war der Lehrer noch im daneben liegen Fachraum?

Schnell lief ich zu der Tür und drückte die Klinke herunter. Tatsächlich war nicht abgesperrt.
"Herr Bauer?", rief ich, doch ich erhielt keine Antwort.

Ich schloss die Tür wieder hinter mir und verspürte plötzlich eine Übelkeit in mir hochsteigen. Woher kam das denn auf einmal? Ich hatte doch gar nicht zu viel gegessen.

Schnell nahm ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche, doch anstatt besser zu werden, wurde es immer schlimmer. Ich kramte hektisch in meiner Schultasche nach meinem Handy. Wem sollte ich schreiben? Wer konnte mich aus so einer Situation retten? Felix! Schoss es mir durch den Kopf. Mein Schwarm war Schulsanitäter und fast immer über das Handy erreichbar. Rasch nahm ich ein Audio auf:

"Felix, Hilfe...bin im Chemiesaal, mir ist so schlecht...", stöhnte ich mehr, als es zu sagen.

Doch ehe ich sehen konnte, dass das Audio angekommen war, ging mein Handy plötzlich aus. Mist der Akku war leer.

Jetzt konnte ich bloß noch hoffen, dass das Audio abgeschickt wurde, er es sich anhörte und mir half.

Mir wurde immer schwindeliger und es war mir richtig übel. Ich schaffte es gerade noch zu dem Mülleimer, bis ich mich übergeben musste. Doch wirklich besser ging es mir danach nicht. Ich lag auf dem Boden und neben mir der Mülleimer. Mir war so schwindelig, alles schien sie nur noch so um mich zu drehen.

Wenn ich jetzt aufgestanden wäre, wäre ich sofort wieder hingeknallt oder ohnmächtig geworden. Erneut musste ich mich übergeben.

Wieso kam denn niemand? Hatte er die Nachricht etwa doch nicht bekommen? Aber dann würde ich bis morgen früh hier liegen bleiben, vielleicht auch noch länger. Ich begann zu schluchzten. Im selben Moment nahm ich das Geräusch eines Schlüssels am Schlüsselloch wahr. Ich wollte etwas sagen, aber das konnte ich nicht.

Ich sah wie Felix langsam die Tür öffnete und dann schnellen Schrittes auf mich zukam.

"Nina, was ist passiert?", fragte er bestürzt und war sofort bei mir.

Er zog mich etwas vom Boden auf und ich lehnte mich erschöpft an ihn. Ich konnte einfach nicht mehr, mir war immer noch ziemlich schlecht und schwindelig war mir auch noch.

Einen Augenblick später wurde erneut die Tür geöffnet und mein Chemielehrer betrat den Chemiesaal.

"Was ist passiert?", fragte er bestürzt, als er uns so sah.

"Das weiß ich nicht, aber sie lag am Boden, hat sich übergeben und scheint nicht mehr lange bei Bewusstsein zu sein!", antwortete Felix fachmännisch.

Daraufhin zog Herr Bauer sein Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf. Wenige Minuten später kamen auch schon zwei kräftige Männer und brachten mich zum Krankenwagen. Felix und Herr Bauer waren immer ganz nah bei mir, sofern ich das mitbekam.

Die Männer wollten gerade die Türen des Wagens schließlich als ich mich zu Wort meldete.

"Kann er mitkommen?", fragte ich.

"Sie können beide mitkommen, wenn sie wollen", erwiderte der eine, größere Mann und winkte die beiden herein.

Im Krankenhaus bekam ich nicht mehr viel mit. Anscheinend hatte ich tatsächlich das Bewusstsein verloren.

Langsam schlug ich die Augen auf und blickte um mich und erkannte meinen Lehrer und meine Schwarm, welchen mein Aufwachen sichtlich erfreute.

"Nina, wie geht's dir?", fragte Herr Bauer besorgt.

"Ich weiß nicht...", antwortete ich schwach.

Im selben Moment trat der Arzt ins Zimmer.

"Wie ich sehe ist sie wach", stellte er zufrieden fest.

"Seit gerade eben", erwiderte Felix und seine Stimme klang seltsam monoton.

"Naja, wie auch immer", fuhr der Arzt unbeirrt fort. "Deine Eltern sind überhaupt nicht erreichbar und auch sonst keine Angehörigen, aber du bist ja schon volljährig, also ist das eigentlich nicht nötig, aber aufgrund dieses schwerwiegenden Vorfalls wollte ich doch lieber die Eltern informieren. Dürfen die beiden erfahren, wie es um dich steht?"

Völlig erschlagen von den gerade gehörten Informationen nickte ich und sah zu Felix und Herr Bauer. Beide sahen mich mit einem mitleidigen Blick an.

"Gut! Du hast eine akute Benzolvergiftung, da du dich im Chemiesaal befunden hast, klärt sich die Frage zumindest zum Teil, warum dies geschehen konnte. Wie allerdings Benzoldämpfe frei werden konnten, ist mir unklar!", meinte der Arzt und sah Herr Bauer durchdringend an.

"Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht", sagte dieser und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

So verzweifelt hatte ich ihn noch nie gesehen.

"Ich hab ihr sofort Paraffinöl und Aktivkohle gegeben, die die Aufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt verhindert. Trotzdem wird es dir nicht sofort besser gehen und du musst noch einige Zeit hier bleiben!", erklärte er und verließ dann einfach das Zimmer.

"Komischer Kerl!", brummte Herr Bauer und schaute mich nachdenklich an.

"Nina, es tut mir so leid für dich was passiert ist!", sagte Felix und kam an mein Bett.

"Ist schon okay, du kannst nichts dafür!", erwiderte ich. "Ich muss mich bei dir bedanken, dass du überhaupt meine Nachricht ernst genommen hast, ohne dich wäre ich vielleicht gar nicht mehr am Leben!"

Bei den letzten Worten brach meine Stimme und ich sah verlegen auf meine Decke, mit welcher ich zugedeckt war.

"Hey, alles wird gut", meinte Felix und umarmte mich.

Nach ungefähr einer halben Minute löste er sich wieder von mir und sah mir tief in die Augen. Dann beugte er sich immer näher zu mir, bis seine Lippen die meinen sanft berührten.

Als ob das gerade wirklich in Realität passierte. Ich konnte es mir schlicht und einfach nicht erklären, aber dann verbannte ich den Gedanken schnell und genoss es.

Eineinhalb Wochen später.

Ich wurde endlich aus dem Krankenhaus entlassen und Felix holte mich mit seinem schwarzen Auto ab. Er war schon 19 und durfte daher schon fahren.

Die Benzolvergiftung hatte zum Glück keine bleibenden Schäden hinterlassen und so rannte ich gut gelaunt meinem Freund entgegen.

So betrachtet hatte das Ganze etwas Gutes an sich, aber dennoch war ich mehr als nur glücklich diese Angelegenheit überstanden zu haben!

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