Märchen und Wahrheiten

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Die Slawenburg Wulfesal - endlich war Larno an den Ort zurückgekommen, von dem die Mutter mit ihm als Kleinkind fortgegangen war.

Wulfesal unterschied sich nur wenig von Burg Slivor, war jedoch größer angelegt und dennoch im Inneren weniger zugebaut. Die Häuser standen gut geordnet im Rund. Nur das Haupthaus, welches wohl dem Herren der Burg auch hier zustand, stand quer zum Innenplatz. Die Wälle der Burg erschienen höher, doppelt mannshoch in etwa. Und die dunklen Palisaden an deren Krone waren ebenfalls noch einmal so groß, dass ein Mann sogar Mühe hatte, darüber hinaus zu schauen. Auffällig war auch der lang ausgelegte Knüppeldamm, der in einer kleinen Nische vor dem Torhaus endete und Belagerungsgerät ein Ausrichten am Tor erschwerte.

Herr der Burg war der vierzig Jahre alte Miko Domanica, ein kleinerer, dicklicher Mann mit Schnauzbart.

Herr Miko hatte mehrere Jahre am Lenzener Hof dem Linonenfürsten treue Dienste geleistet. Er kannte die Kinder des Fürsten wohl noch von klein an- so jedenfalls war die Begrüßung doch überaus herzlich.

Der Wulfesaler Herr war ebenso lustig und unter den Leuten beliebt, wie er auch energisch und zielstrebig sein konnte. Wie er beim Gastmahl erzählte, übte er sich nun bereits seit zehn Jahren darin, die Wulfesaler Leute in seiner eigenen Art anzutreiben.

Dass ihm dies gut gelungen war, konnte man in der Burg an vielen Orten erkennen. Die Leute waren zufrieden.

Fräulein Nerin hatte dem Besuch einen Vorwand geschaffen. So hatte sie erklärt, dem neuen Herren von Bojek die Umlande des linonischen Siedlungsgebietes zeigen zu wollen, was wichtig für Handel und gegenseitiges Auskommen sein werde. Auch wäre es im Sinne ihres Vaters, wenn die alteingesessenen Linonen die Neuankömmlinge aus dem Brisanenland wohlwollend empfangen.

Herr Miko Domanica, als örtlicher Herr dieser Grenzburg, sei zudem auch weithin bekannt für seine Gastlichkeit.

Die Schmeicheleien und geschilderten Reisegründe waren es wohl auch, welche Herrn Miko veranlassten, zwei Häuser nahe seinem Herrenhaus herrichten zu lassen für die Gäste. Eines für die hochgestellten Fürstenkinder und ein weiteres Haus für den Bojeker Herrn Larno, seinen Begleiter Stanielub und den Lenzener Krieger Spyshek.

Obwohl Nerin und Larno vorher abgesprochen hatten, die Streitereien um Burg Slivor mit den Redariern und Lutizen nicht ansprechen zu wollen, so war es Herr Miko, der das Gespräch auch darauf beim Gastmahl brachte.

„Wie wir erfahren haben, hattet ihr Zwist mit dem Fürsten Neromir? Mehr noch- man erzählt sich, dass ihr eine seiner Burgen verheert haben sollt?", fragte Herr Miko fast beiläufig.

„Nun, in Wahrheit lagen die Dinge anders. Burg Slivor- von der sicher die Rede ist- ist eine brisanische Burg im Grenzland zu den Redariern. Und Neromir brachte die Burg durch Verrat und Mord mit Gewalt an sich. Da die Brisanen sehr weit verstreut siedeln und auch keinen starken Fürsten haben wie die Linonen, war es für die Redarier eine leichte Beute, die Burg zu nehmen. Die Leute jedoch stellten sich gegen Neromir um ihrer selbst Willen. Was hat man Euch erzählt? Und woher stammen die falschen Geschichten?", fragte Larno vorsichtig nach.

„Nun, wir sind Grenzburg zum Lutizen- Land. Händler waren es wohl, die Uns dies berichteten. Danach wurden wohl die Redarier und Lutizen um Hilfe gebeten im Kampf gegen Räuber. Und der Fürst Neromir habe diese Hilfe gegeben mit seinen Kriegern- so sagt man es." Herr Miko schien etwas misstrauisch- so hatte es den Anschein.

„Neromir ist der Räuber. Ein Räuber und ein Mörder! Meine Tochter hat er mir genommen und ..."- platzte es aus Stanielub heraus, bevor Larno ihn mit Auflegen der Hand und festen Druck auf den Arm zum Schweigen bringen konnte.

„Guter Herr Miko. Ich habe es selbst gesehen, wie der Fürst Neromir -als zu Gesprächen geladener Gast auf Burg Slivor- vor aller Augen seinen Dolch zückte und den Slivorer Herrn Wielzko von hinten in den Rücken stach- noch bevor dessen Leute alle niedermachten in der Burg, die Widerstand gaben. Und Jeder von Uns- mich eingeschlossen- hat durch Neromir's Hand oder seinen Auftrag Menschen, Hab und Gut verloren. Das Dorf Slepna hat er niedergebrannt. Ihr solltet den Märchen nicht glauben, welche man Euch wohl erzählt hat."

Herr Miko schienen die groben Schilderungen neu zu sein. Das- was Stanielub und Larno vorbrachten- wollte er kaum glauben. Herr Miko Domanica schien daran jedenfalls zu zweifeln, bis Fräulein Nerin auch einige Worte gab.

„Ich würde wohl auch zweifeln, aber muss Euch sagen, dass ALLES Gesagte wahr ist. Neromir ist grausam und strebt nach Macht. Wie ihr vielleicht auch erfahren habt, war auch ich seine Gefangene- oder vielmehr eine Gefangene des Lutizenbundes. Eine Gefangene unter Vielen."

Jetzt jedenfalls wirkte Herr Miko erschrocken. „Ihr Frau Nerin? Ich dachte, ihr wart unter polnischem Schutz? Ich hatte davon gehört, aber ..."

„Ja- bis die gesamte Gesandtschaft um die polnische Prinzessin Reglindis durch Krieger getötet wurde und die Überlebenden durch den Lutizenbund in Fürst Neromirs Gewahrsam gegeben wurden. Und dieser Gewahrsam hieß bei ihm Gefangenschaft!"

„Verzeiht mir bitte- Ihr alle. Seht es Uns nach, wenn wir nicht um diese Wahrheiten wussten. Es ist nur so- wir erfahren auch nicht alles. Und das Wenige, dass wir erfahren, kann täuschen- so wie es mich täuschte. Entschuldigt dies bitte. Ich muss wohl vorsichtiger darin werden, Nachrichten aus dem Lutizenland zu bewerten oder zu voreilig mein Maul zu öffnen."

Herr Miko Domanica schien dies ehrlich zu meinen. Daher wollte es die edle Nerin damit bewenden lassen, um den Gastgeber nicht noch mehr in unangenehme Bedrängnis zu bringen.

Auch Larno zwang sich, wieder ruhig zu werden. Aufgewühlt hatten ihn die falschen Nachrichten- ja tief getroffen.

Doch so wusste man wenigstens, wie die Lutizen und Redarier die Geschehnisse auf Burg Slivor nach außen darstellten.

„Besser man erfährt hier davon und kann zurück zur Wahrheit gelangen. Viel schlimmer wäre es, diesen lügenhaften Geschichten zu glauben. Dann hätte Fürst Neromir erreicht, was er mit diesen falschen Informationen beabsichtigt. Er würde sich als Retter darstellen können, dem übel von Uns mitgespielt wurde. Und damit nicht genug-würde Neromir der Gute sein und Wir die Schufte.", warf Stanielub ein. Auch ihm hatten diese Lügenmärchen innerlich sehr getroffen- es war Stanielub anzumerken. „Nur die Götter wissen, wem dieser Neromir noch solchen Unsinn erzählt hat."

„Ich entschuldige mich.", beteuerte Herr Miko nochmals- und wie es schien ehrlichen Herzens.

Es war der junge Fürstensohn Beromir, der nun für Ablenkung sorgte, indem er Herrn Miko bat, den Gästen von der Burg Wulfesal und deren Vergangenheit zu berichten. Beromir fand, es würde doch interessant sein, wenn Herr Miko über seine Errungenschaften spricht.

Dies war in der Tat lösend für die verfahrenen Gespräche an der Tafel.

Larno hörte interessiert zu, was Herr Miko über die letzten Jahre sagte.

Als im Jahr des Slawenaufstand der damalige Burgherr in der Schlacht an der Tanger gefallen war- und mit ihm viele Krieger aus Wulfesal- hatte sich ein örtlicher Krieger mit Namen Janko als neuer Herr von Wulfesal durchgesetzt. Als dieser Janko vor zehn Jahren starb, hat Fürst Berogast selbst den Nachfolger mit Herrn Miko besetzt- auch um diese Burganlage hier im Grenzbereich seiner Herrschaft wieder auszubessern. Da ältere Zwistigkeiten mit den Lutizen seither nicht mehr bestanden, kamen die Arbeiten gut voran und der Handel an Gütern nahm wieder zu. Und es kamen auch wieder Leute an die Burg- auch wenn es noch immer zu Wenige sind.

Die edle Nerin und ihr Bruder lobten Herrn Miko's Aufbauarbeit und umsichtige Führung der Leute- und erbaten, dass seine Gäste zu Ihren Lagern durften nach den Beschwerlichkeiten der Reise.

Die angebotenen Schlafplätze waren einfach. Angenehm jedoch war, dass das große Feuer im Inneren der Burg sehr abstrahlte trotz der kalten Nacht.

Auch wenn Larno es wollte und er zudem erschöpft war- recht einschlafen konnte er heute nicht. War es das Gesagte? War es dieser Ort? Nach längerem Hin und Her auf seinem Lager warf er sich noch einmal die Jacke über und ging hinaus in die Nacht.

Ins das Feuer blickend kreisten die Gedanken in seinem Kopf und wollten ihn keine Ruhe lassen.

Wenn selbst angesehene Stammesherren der Linonen- so wie Herr Miko- den Lügen der redarischen und lutizischen Zungen mehr glaubten, als den Worten derer, die all den Wahnsinn erlebt hatten und die Wahrheit kannten, dann würde es für die Neuankömmlinge auf Burg Bojek und auch Larno selbst noch ein langer Weg werden, hier bei den Linonen Anerkennung und Frieden zu finden.

- Larno- Im Ränkespiel der MachtWhere stories live. Discover now