Aber Lorena hatte sich zu früh gefreut. Pünktlich am Sonntag lag sie mit hochrotem Kopf im Bett. Sie hatte sich das Marschfieber geholt.
Und wieder war es Hauke, der ihr den Kräutertee reichte und die Suppe in den Mund löffelte. Die letzten Jahre schienen wie ausgelöscht; sie war wieder zu dem kleinen Mädchen geworden, das dringend Hilfe brauchte. Ihre Krankheit hatte ihn wachgerüttelt und aus seiner Melancholie befreit. Aufmerksam beobachtete er die kleinsten Anzeichen und kümmerte sich um sie. Er wusste, es würde für sie sehr anstrengend werden. Selbst dieses sonderbare Huhn schien dies zu spüren, anstatt sich wie sonst draußen aufzuhalten, hockte es meist in einer Zimmerecke und beäugte das Geschehen.
Am zweiten Tag ihrer Krankheit fand sich Eilien ein und trat besorgt an ihr Lager. Lorena wälzte sich zähneklappernd unter mehreren Decken und schlotterte, als sei tiefster Winter und das Innere des Hauses zugefroren.
Flüsternd gab ihr Hauke Auskunft.
„Ich wusste es, ahnte es bei dem letzten Abschied am Steg ... ausgerechnet Lyka, die sich sonst so sicher bewegt, schwankte, suchte Halt. Fast wäre sie ins Wasser gefallen! Da wusste ich: etwas stimmte nicht mit ihr! Ich wunderte mich schon, dass sie solche Mühe beim Schreiben hatte, da schwitzte sie schon stark."
Sie blickte sich um. „Ich nehme an, ihr habt kein Bett mehr frei? Ich schlafe gern auf der Ofenbank."
„Du willst doch nicht etwa bleiben?!", fragte Hauke.
„Doch, das will ich. Ich muss", rief sie.
Ein Geräusch kam vom Bett her, ein Murmeln ... Lorena hob den Kopf, bewegte leicht die Hand -
... wollte sie zustimmen? Ablehnen?
Sie ließ die Hand wieder fallen, ihr Kopf sank hintenüber in die Kissen, die Lider schlossen sich. Zum Reden war sie viel zu schwach.
Beinah angstvoll deutete Eilien auf die Kranke. „Seht Ihr? Nach dem Schüttelfrost kommt das hohe Fieber, da braucht sie Hilfe. – Habe mir gedacht, ich pflege Lyka solange, bis sie wieder gesund ist. Und Ihr könnt Euch getrost um Eure Arbeit kümmern, überlasst alles andere mir. Mein Vater ist übrigens einverstanden. Er wartet draußen auf dem Wagen, ich brauche mir nur noch meine Reisetasche zu holen, darin sind getrocknete Kräuter für den Heiltee – Weidenrinde und Fliederbeere – eingepackt."
„Die habe ich hier auch ...", erwiderte Hauke.
„Aber nicht mehr viel davon, oder? Oder??", trumpfte sie auf und stieß das Kinn herausfordernd in die Luft. Die so sanfte Eilien glich einer kämpferischen Schildmaid.
Hauke verschränkte die Arme und sagte erst mal gar nichts. Ihm passte der unverhoffte Besuch nicht, aber das Marschfieber – auch Wechselfieber genannt – durfte man nicht unterschätzen. In den feuchten, mückenverseuchten Marschgebieten kam die Krankheit besonders im Frühjahr häufig vor, manchmal trat sie sogar als Epidemie auf. Sie war nicht direkt lebensbedrohlich, trotzdem gab es Todesfälle, was vermutlich an dem schlechten Wasser lag. Das salzige oder moorige Brunnenwasser taugte nicht zum Trinken. Man war auf das Regenwasser angewiesen, das in Zisternen gesammelt wurde. Und falls nicht genug davon vorhanden war, musste man das andere Wasser abkochen, was dem geschwächten Körper noch mehr zusetzte.
Er warf einen Blick zu Lorena, die indes mit fieberglänzenden Augen ins Leere starrte. Sie schien wie ein Ofen zu glühen.
Wenigstens hatte sie bis jetzt keinen Unsinn gestammelt, aber das konnte ja noch kommen. Es stand jedenfalls nicht gut um sie. Nachdem er dies bedacht hatte, öffnete er endlich den Mund und sagte ein einziges Wort: „Joh."
Dank Eiliens Fürsorge – Wadenwickel, kühlende Tücher auf Stirn und Wangen, kräftige Suppen, mehrmalige Gaben von Heiltee -, gesundete Lorena allmählich. Während dieser kräftezehrenden Zeit durchlitt sie die immer gleichen Stadien: zuerst Schüttelfrost, dem hohes Fieber mit Übelkeit und Erbrechen folgte, am nächsten Tag starke Schweißausbrüche, danach endlich Fieberfreiheit. Langsam erholte sie sich – und das Ganze begann von vorn.
Alle achtundvierzig Stunden kamen und gingen die Fieberattacken so zuverlässig wie Ebbe und Flut. In diesem Auf und Ab fühlte sich Lorena hin- und hergeworfen wie ein leckgeschlagenes Boot auf hoher See. Sie strandete an ihrer eigenen Küste, und Eilien sowie Hauke standen bereit, die verbliebenen Trümmer von ihr aufzusammeln, sie zu stärken und aufzupäppeln – bis zum nächsten Mal.
Nach vier Wochen endlich hörte das Martyrium auf. Erschöpft, aber fieberfrei, erhob sich Lorena von ihrem Lager, doch beim Gehen schien der Boden unter ihren Fußen wie verrückt zu schwanken. Himmel – bebte die Insel?! Schnell hakte sich Eilien bei ihr unter und führte sie zum Stuhl.
Vorsichtig ließ sich Lorena darauf nieder. SITZEN. Zum ersten Mal wieder sitzen! Sie kam sich vor wie ein Kleinkind, das alles einüben musste. Wenigstens blieben die Fieberanfälle aus; in dem Maße, wie ihre Gesundung voranschritt, gewann sie die Beweglichkeit mehr und mehr zurück.
Noch reichte ihre Kraft gerade hin, um die Stube zu fegen und die Suppe anzurühren. Diese lähmende Mattigkeit hielt noch weitere zwei Wochen an, aber zu ihrem Erstaunen nahm Hauke Rücksicht auf sie, schonte ihre Kräfte, machte alle Besorgungen allein und ließ sie soweit in Ruhe. Das wunderte sie etwas, entweder war es echte Rücksichtnahme oder er wollte aus reinem Eigennutz keine wertvolle Arbeitskraft verlieren.
Sobald Eilien sah, dass sie einigermaßen sicher auf den Beinen stand, kehrte sie wieder zur Hallig zurück, schließlich hatte sie auch einen Haushalt zu versorgen. Täglich um die Mittagszeit war Iwe erschienen und hatte sich von ihr eine warme Mahlzeit mitgeben lassen. Er war sicher froh, nicht mehr alleine essen zu müssen.
Fenja war noch anhänglicher als sonst; sie unterließ die Ausflüge nach draußen und folgte Lorena überallhin. Nur zum Schlafen zog sie sich in ihren Winkel zurück. Lorena war darüber sehr gerührt. Wenn ich umfalle, würde Fenja fortfliegen und Hilfe holen? Kann das ein Huhn überhaupt? Aber es tat gut, zu sehen, wie gut das Tier auf sie aufpasste.
Die lange Schonung zeigte schließlich Wirkung; eines sommerlich-warmen Tages kehrte ihre Energie zurück wie eine Flut. Natürlich fehlte noch die alte Kraft, diese musste sie sich erst langsam wieder aneignen.
Es wurde Zeit.
Mir fällt die Decke auf dem Kopf. Die Wände kriechen auf mich zu, ich ersticke ... Ich muss wieder hinaus an die Luft! Am besten ins Watt ... aber allein traue ich mich nicht. Ich werde Hauke fragen, ob er mich begleitet.
Das tat sie auch gleich am nächsten Morgen, beim gemeinsamen Frühmahl.
Der Löffel in seiner Hand zitterte kurz. Prüfend huschten seine Mäuseaugen an ihr hinauf und hinunter. „Ich muss heute Mittag mit dem Boot hinaus zum Botengang nach Föhr. Es kann sein, dass wir auf dem Rückweg auf einer Sandbank pausieren müssen, bis die Flut zurückkommt. Darüber kann es Nacht werden – schaffst du das?"
Sie streckte und dehnte sich wie eine Katze. „Ich will es schaffen. Unbedingt! Bin schon ganz eingerostet!"
Hauke nickte stumm, dafür verrieten ihn seine leuchtenden Augen. Ein Lob, so etwas wie: Die Dirn hatte Biss!
YOU ARE READING
🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*
Historical Fiction1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie besitzt nichts, aber sie gewinnt alles. Als geborene Verliererin muss sie lernen, zu siegen. Und das ist ihre Geschichte ... Nach einem Schif...