Lorena war gerade dabei, die angebrannten Essensreste aus dem Kochkessel zu schaben, als es an der Tür klopfte. Froh über die Unterbrechung dieser langweiligen Arbeit, warf sie die Bürste in die Ecke und machte auf.
Draußen stand Sieverd Brodersen, der Sohn des Salzvogts. Er wirkte ziemlich nervös. „Ist Hauke da?", fragte er.
Sie wollte ihm erst vorflunkern, er sei im Watt unterwegs, aber das leichte Zittern in Sieverds Stimme stimmte sie mitleidig, und so antwortete sie offen und ehrlich. „Ja, er ist da, aber er schläft. Ist es dringend?"
„Ja! Es geht um meinen Vater - aber mehr noch um die Edomsharde. Weck' Hauke - bitte!!" In Sieverds Blick flackerte Angst, und so drang sie nicht länger in ihn. Hoffentlich machte Hauke keinen Ärger! Er schlief nämlich gerade seinen Rausch aus. Zwar hatte er längere Zeit dem Schnaps widerstanden, doch gestern Abend hatte er Glas um Glas geleert, zwar nur einen wasserverdünnten Kornschnaps, doch es hatte gereicht. Immerhin war er friedlich geblieben, hatte auf dem breiten Lehnstuhl in der Ecke gesessen, ins Leere gestarrt und mit seinen inneren Dämonen gerungen. Als er eingenickt war, hatte er sich - halb gezogen, halb geschoben - von ihr widerstandslos in sein Bett bringen lassen, er, der große, schwere Mann, aber es war ihr gelungen. Nun schlief er schon seit Stunden. Ob er überhaupt in der Lage war, Sieverd anzuhören?
Es nutzte aber nichts, stehenzubleiben und auf eine Lösung zu warten, da musste sie schon selbst nachsehen. Sie bat Sieverd, im Flur zu warten, ging zum Alkoven, pochte leise an und rief Haukes Namen. Sie musste ihn viermal wiederholen, ehe sich drinnen etwas rührte. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit ...
„Hä?", knurrte es heraus.
„Sieverd ist da! Ist dringend!", rief sie.
Da raschelte es etwas lauter, erst schwangen die Füße heraus, suchten Halt auf den Boden und danach ließ sich Hauke ganz sehen. Ein kurzer Blick auf ihn genügte, und sie war beruhigt. Seine Augen blickten klar und wach. Schnell strich er sich mit beiden Händen die zerzausten Haare glatt, ließ sich von ihr einen Hausmantel geben und zog ihn an.
Gemächlich schritt er zur Tür, und ohne hochzusehen, fragte er frostig: „Hrm?" in Sieverds Richtung.
Dieser ließ sich durch Haukes abweisendes Verhalten nicht aus der Ruhe bringen und bat im höflichen Ton: „Mein Vater lässt dich bitten, ob du die Reparaturen an seinem Deichstück beaufsichtigen könntest, so für zwei oder drei Wochen. Vater kann's nicht, er liegt mit einer Lungenentzündung im Bett und darf nicht aufstehen, und ich selber muss geschäftlich noch heute nach Husum. Gerade jetzt sind wichtige Arbeiten im Gange, die den Deich gegen die winterlichen Sturmfluten rüsten sollen. Du kannst gerne solange in unserem Haus wohnen, bis mein Vater wieder bei Kräften ist. Willst du's tun?"
Gespannt beobachtete Lorena, wie Hauke reagieren würde. Jetzt verstand sie Sieverds Furcht! Nach dem Deichrecht ereilte denjenigen, der seine Deichstrecke vernachlässigte, eine schreckliche Strafe, wenn andere dadurch zu Schaden kamen. Das Haus des Verursachers wurde niedergerissen und er selbst lebendig darin begraben. Für Sieverds Vater ging es also um Leben und Tod!
Auch Hauke schien nun zu begreifen ... aus seiner Miene verschwand plötzlich jede Schroffheit und sagte sofort: „Richte Tjark aus, ich habe die alte Freundschaft nicht vergessen. Ich komme!"
Hoffnungsvoll fragte Sieverd: „Ist es vielleicht sofort möglich? Ich kann dich in meinem Wagen mitnehmen."
Hauke nickte. „Joh, das geht! - Lyka, pack' meine Sachen!" Seine Stimme klang fest und sicher; es schien, als sei die alte Tatkraft wieder zurückgekehrt.
Er wird gebraucht, das ist es, dachte Lorena, während sie alles Benötigte zusammensuchte. Auf diese Weise kann er seine Ehre Stück für Stück wieder zurückgewinnen. Dass er ausgerechnet den Salzvogt vertreten soll, wird den Leuten zeigen, welch' wichtigen Stellenwert er noch einnimmt. Sie freute sich für ihn - und für sich selbst. Dieser Augenblick war günstig - Hauke fort! Und das für längere Zeit! Knapp zwei Wochen war es her, seit sie mit Janko auf Amrum gewesen war. Es blieben noch vier Stunden bis zum Treffen; diesmal würde sie sich früher als sonst zum Deich begeben und auf ihn warten. Sie wollte keine Minute verpassen. Ihre Zeit war gekommen.
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🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*
Historical Fiction1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie besitzt nichts, aber sie gewinnt alles. Als geborene Verliererin muss sie lernen, zu siegen. Und das ist ihre Geschichte ... Nach einem Schif...