XI

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Einen Tag später

"Trefft alle Vorkehrungen", sagte Cugulim und sah den Ork-Hauptmann mit festem Blick an. "In drei Tagen müsst ihr abmarschbereit sein."
Der großgewachsene Ork nickte nur knapp, dann drehte er sich um und schrie Befehle in schwarzer Sprache. Cugulim wandte sich ebenfalls ab und warf einen Blick über die Brüstung auf den Pelennor, der sich zu Füßen der Stadt erstreckte. Die grau-gelbe Wiese war in den letzten Tagen wieder zu etwas Leben erwacht, nun konnte Cugulim in der Ferne auch eine große Anzahl an Schiffen kommen sehen, die sich den Anduin hinaufbewegten und schon bald die Ruinen von Osgiliath erreicht haben würden. Es waren mindestens dreißig Schiffe, die den Fluss durchquerten und jedes Schiff, so wusste Cugulim, war in der Lage, siebzig Männer aufzunehmen, wohl fast zweitausend weitere Männer, die ihm zur Verfügung standen. Cugulim rechnete kurz in Gedanken durch: Mit diesen Männern würden dreieinhalbtausend Menschen unter seinem Befehl stehen. Die etwa fünftausend Orks, die diese Stadt besetzt hatten, würden abziehen und die Bewohner der Stadt, deren Zahl in der Schlacht auf etwas über zwanzigtausend geschrumpft war, konnten endlich mit dem endgültigen Wiederaufbau der Stadt beginnen. Dennoch, jetzt war es zuerst an der Zeit, diese Menschen dort unten zu empfangen. Cugulim drehte sich auf dem Absatz um, überquerte den Platz und trat in den hell erleuchteten Gang, der vom siebten in den sechsten Mauerring führte. Anschließend bog er scharf rechts ab und ging noch einige Meter weiter, bis er bei den Stallungen angelangt war. Ein älterer Mann, dem das linke Ohr fehlte, brachte ihm wortlos sein bereits gesatteltes Pferd, worauf sich Cugulim mit einem freundlichen Lächeln bedankte. Wie immer sah ihm der Mann nicht in die Augen und ging auch nicht auf seinen Dank ein, ein Umstand, der Cugulim inzwischen nicht mehr verwunderte. Zu lange war er nun Verwalter von Minas Tirith, als dass ihn irgendeiner der Bewohner dieser Stadt nicht als Verräter ansehen würde. Seufzend schwang der junge Mann sich auf seinen Braunen, Ríad, sein treues Pferd, das er nun seit mehr als elf Jahren ritt. Er wusste, nun musste er sich beeilen, wenn er Nirành und Arnasûl sprechen wollte, bevor er ihre neuen Gäste empfing. Schnell gab Cugulim seinem Hengst die Sporen und ritt ohne Rücksicht auf Verluste die schmalen und steilen Gassen der Stadt hinab. Wenig Betrieb herrschte auf den Straßen, war es doch noch recht früh am Tag. Cugulim sah nur wenige Orks und noch weniger Menschen, zumindest, bis er in den zweiten Ring vorgestoßen war. Hier und im untersten Ring hatten sich die Menschen aus dem Süden und Osten Mittelerdes niedergelassen, entsprechend konnte Cugulim hier weit mehr Menschen erkennen, die trotz der niedrigen Temperaturen und der frühen Zeit schon auf den Beinen waren und ihrer Arbeit nachgingen. Gekonnt lenkte er sein Pferd durch die Gassen, vorbei an essenden, scherzenden und schuftenden Menschen, bis er schließlich an einer Ecke halt machte. Vor ihm lag ein unscheinbares Haus, das sich jedoch durch seine Größe deutlich von den umliegenden Häusern abhob. Hier musste einst eine reiche, adlige Familie gelebt haben, doch inzwischen diente sie den Fürsten des Südens und Ostens als Wohnsitz. Schnell saß Cugulim ab und führte aus alter Gewohnheit heraus, die auf noch älterer Erfahrung beruhte, Ríad ohne ihn anzubinden vor das Haus. Dort tätschelte er seinem Pferd noch kurz den Hals, dann trat er in das dunkle Haus. Ohne sich groß umzusehen, durchquerte er die große Eingangshalle und ignorierte die Blicke der vereinzelten Menschen, die in ihr unterwegs waren. Mit großen Schritten ging er auf die Treppe zu, die in den ersten Stock führte und stand somit nur fünf Sekunden später vor einer großen Flügeltür, hinter der ein großer Raum lag, den die Fürsten als Residenz- und Empfangszimmer nutzten. Er nickte den Wachen vor der Tür knapp zu, dann öffnete er die Türflügel und betrat das Zimmer. Die Blicke von Nirành und Arnasûl, die sich an zwei hölzernen Tischen niedergelassen hatten, sowie weiterer, offenbar ranghoher Menschen in der Hierarchie des Südens und Ostens, schreckten hoch, als Cugulim plötzlich und ohne Vorankündigung in den weiten Raum eintrat.
"In Osgiliath laufen Schiffe ein", erklärte Cugulim knapp und ohne große Floskeln. "Mein Herr hat weitere Männer geschickt, wir müssen sie empfangen."
Nirành erhob sich sofort, nickte Cugulim zu und verlangte nach zwei Pferden, worauf sich auch Arnasûl zögernd erhob.
"Spätestens jetzt dürfte unserer Beteiligung an eurem Plan nichts mehr im Wege stehen", sagte Nirành, als er neben Cugulim stand. Zufrieden legte er dem jungen Menschen die Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein knappes Lächeln. "Die Menschen werden sich zurückholen, was ihnen gehört."

Celeborn stand an der Reling des Schiffes und blickte starr auf das kleine grüne Eiland, das vielleicht noch sieben Meilen vor ihnen lag. Seit anderthalb Tagen waren sie nun auf See, jetzt hatten sie endlich ihr Ziel erreicht. Die frostige Wind blies dem Elben um die Nase, doch dies war bei weitem nicht der einzige Grund für die Kälte, die er in diesem Moment einmal mehr spürte. Immer noch rang er innerlich mit der Entscheidung, die er vorgestern getroffen und die sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Hier stand er nun, auf einem Schiff Richtung Westen unter der Flagge der Eisernen Krone mit den drei Silmaril, umringt von Orks und auf dem Weg zum Grab eines Menschen, um es zu entehren. Doch schnell verdrängte er die in ihm aufwallenden Zweifel und bohrte seine Finger tief in das dunkle Holz der Reling, der er immer noch umklammerte. Er wusste, dass das, was er tat, vielleicht nicht immer richtig sein mochte, doch dieser Weg war der einzige, der seinem Volk Rettung und Rückkehr zu alter Stärke versprach.
Inzwischen waren sie bis auf vier Meilen an die kleine Insel herangekommen und Celeborn riss seinen Blick von dem paradiesischen Anblick los, zurück in die dunkle Wirklichkeit. Hinter ihm stand der Ork-Hauptmann, der ihn auf dieser Expedition begleitete und fixierte ihn mit unverhohlener Verachtung, aber auch mit einem gewissen Respekt. Offenbar hatte Morgoth ihnen eingebläut, ihn ja gut zu behandeln. Hinter dem großen Ork konnte er weitere, zumeist kleinere Orks erkennen sowie die zwei anderen Schiffe, die diese Mission begleiteten. Alle Schiffe waren aus dunklem Holz gefertigt und recht klein und schnittig, keine Kriegsschiffe, sondern zu große Boote, dazu gemacht, Orks so schnell wie möglich über das Meer zu transportieren. Auf jedem Schiff befanden sich etwa fünfzehn Orks, eine große Truppe für eine solch einfache und eigentlich unbedeutende Aufgabe. Stirnrunzelnd wandte Celeborn sich an den Ork-Hauptmann. Er hatte in den vergangenen Tagen gelernt, dass nahezu alle Orks das Westron beherrschten und auch wenn er die Sprache der Menschen verachtete, so bot sie doch die beste Möglichkeit, mit den Orks zu kommunizieren, wollte Celeborn nicht die Schwarze Sprache erlernen.
“Lasst die anderen Schiffe eine halbe Meile vor dem Ufer warten“, sagte er bestimmt und sah dem großen Ork fest in die Augen. “Die Besatzung unseres Schiffes wird allein an Land gehen, doch alle übrigen Orks sollen sich stets bereit halten, für den Fall, dass ein Problem auftritt.“
Der Ork-Hauptmann nickte ihm nur knapp zu, dann schrie er Befehle in Schwarzer Sprache, während Celeborn sich wieder abwandte und den Blick auf die kleine Insel fallen ließ. Dies war der erste Schritt auf seinem Weg, den Elben wieder zu dem Glanz zu verhelfen, der ihnen würdig war, der erste Prüfstein in seinem beschwerlichen Kampf nach Gerechtigkeit für Mittelerde.

Der letzte Silmaril III: Ewiges LeidenWhere stories live. Discover now