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Aiya rannte, als hinge ihr Leben davon ab. Nachdem sie dort unten diese grausame Entdeckung gemacht hatte, war sie erst für einige Sekunden wie geschockt da gestanden. Ihr Kopf hatte nicht begriffen, was hier geschehen war, vielleicht wollte er es auch gar nicht begreifen. Dann hatte Tingilya sie aus ihren düsteren Gedanken gerissen. Wie ein Pfeil war sie an ihr vorbeigerannt, einfach weg von diesem Ort, weg vom Körper ihres toten Mannes. Sofort war Aiya ihr gefolgt und auch, wenn sie die leichtfüßige Elbin nach wenigen Minuten aus den Augen verloren hatte, wusste sie doch genau, wohin sie gehen musste. Wie jeden Elben zog es nun auch Tingilya in den Westen, ans Meer. Aiya hatte für nichts mehr Gedanken übrig, sie erlaubte ihrem Kopf nicht, sich nun mit irgendetwas anderem zu beschäftigen als dem Weg, der vor ihr lag. Sie wusste, sobald sie zulassen würde, dass ihr Kopf sich der vergangenen knappen Stunde erinnerte, würde dieser unendlich große und so tief in ihr drin steckende Schmerz sie einholen und ihr alle Kraft rauben, die sie soeben für diesen Aufstieg und das, was dann folgte, brauchen würde. Also biss sie verkniffen die Zähne zusammen und rannte weiter durch die wie ausgestorben wirkende Festung. Tageslicht drang an ihre Augen, nun, da sie über fünfzehn Minuten immer weiter in die Höhe gerannt war. Ein Ausgang schien direkt vor ihr zu liegen. Die Treppe endete und ein kleiner Gang führte sie leicht nach rechts, raus aus dem Berg und der Festung darin. Sie trat auf grüne Wiesen, die sich etwa fünfhundert Meter um sie herum an den Berghang schmiegten. Darüber folgte rings um sie der blanke Stein des Berges, einzig vor fiel die Wiese sanft ab. Dort, in etwa vierhundert Metern Entfernung schien das Land abzubrechen, weiter hinten erkannte Aiya die Wellen des grauen Meeres. Davor, am Rand des Abhanges, stand eine einzelne Gestalt. Ihr hellbraunes Haar flog, ganz wie der überaus kräftige Wind es wollte, hinter ihrem Kopf. Aiya wusste sofort, dass dort Tingilya stand. Sie lief erneut los, auf ihre Freundin zu. Immer näher kam sie ihr und sah den zierlichen Körper dort stehen, einen Schritt von dem Steilhang entfernt, an den die Wellen des Meeres brandeten. Schließlich blieb Aiya stehen, fünf Meter von der jungen Elbin entfernt. Eine unsichtbare Barriere hielt sie davon ab, näher an Tingilya heranzutreten. Der kalte Wind blies ihr das Haar aus dem Gesicht und sorgte dafür, dass ihr augenblicklich fröstelte.
"Tingilya?" Ihre Stimme war kräftiger als erwartet, und im Gegensatz zum schneidenden Wind äußerst warm. "Tingilya, sieh mich an."
Für einen Moment dachte Aiya, ihre Freundin hätte sie nicht gehört, dann drehte Tingilya sich zu ihr um. Unwillkürlich wich Aiya einen Schritt zurück. Vor ihr stand nicht die Tingilya, die sie seit fast zehn Jahren kannte. Die Haltung der athletischen Kriegerin war in sich zusammengefallen. Es schien, als würde sie sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. Ihre Schultern und Arme hingen nutzlos herab, ihr Rücken war gebeugt und sie zitterte am ganzen Körper. Doch der erschreckendste Teil an ihr war ihr Gesicht. Das so zart geschnittene und weiche Gesicht wirkte, als hätte man ihm alles Leben ausgesaugt, tot. Ihr Mund war ein schmaler Strich, ihre Wangen waren, genau wie ihre Augen, ungewöhnlich eingefallen und in diesen grünen Augen, in denen Aiya früher stets die Wälder Bruchtals wiedererkannt hatte, stand nun nur noch Leere. Das Grün war dem Grau der Wellen gewichten und es schien, als würden ihre Augen jeden Moment zufallen. Aus ihrem Gesicht sprach nicht die Trauer, die Aiya erwartet hatte. Das Einzige, was dieses Gesicht noch ausdrückte, war Tod. In diesem Moment wusste Aiya, das ihrer langjährigen Freundin nicht mehr zu helfen war. Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen, sofern sie überhaupt eine Wahl gehabt hatte. Ihrem Leben war jeder Sinn genommen worden.
"Ich gehe, Aiya", sagte Tingilya mit hohler Stimme, aus der keinerlei Emotion herauszuhören war. "Ich kann nicht mehr zurück. Das Meer ruft mich. Meine Ewigkeit ist nicht hier, sondern dort. Lebe wohl."
Aiya nickte bloß. Sie wusste nicht, was sie ihrer Freundin hätte antworten sollen. Eine einzelne Träne wollte sich ihren Weg aus ihrem Auge bahnen, doch Aiya hielt sie zurück. Sie durfte nicht zulassen, dass der Schmerz sie einholte. Tingilya sah ihr noch einmal für einen kurzen Moment in die Augen, der eine Ewigkeit zu dauern schien. Hinter diesen leeren, ausdrucklosen Augen lag so viel, doch nichts davon war nun noch für sie greifbar. Dann drehte Tingilya sich um und trat über die Kante, dann war sie aus Aiyas Blickfeld verschwunden. Die junge Frau kniff kurz ihre Augen zusammen, dann trat sie an die Kante. Unter ihr schlugen sie Wellen mit unglaublicher Kraft gegen den Stein und Aiya wusste, dass alles, was dort hineinfiel, die Reise in Mandos' Hallen antreten würde. Wie einfach es doch wäre, einfach loszulassen und ebenfalls dort hinunterzufallen. Wie einfach wäre es, ihre ganzen Sorgen und den Schmerz hinter sich zu lassen und sich frei von allem zu machen. Langsam neigte ihr Körper sich nach vorne, bis sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Unglaubliche Wärme breitete sich in Aiya aus, ausgehend von der Stelle, wo die Hand sie berührte. Sie sah nach hinten und folgte dem Arm, bis sie in ein wunderschönes Gesicht blickte. Es war ohne Zweifel elbischer Natur. Lange, blonde Haare lagen um ein fein geschnittenes Gesicht, aus dem sie zwei meerblaue Augen gütig ansahen. Auf den vollen Lippen lag ein sanftes Lächeln, das Aiya augenblicklich mit Wärme erfüllte.
"Öffne deine Augen, Aiya", sagte das Gesicht leise und fast schon zärtlich. Aiya sah wieder hinaus aufs Meer, die Küste entlang und plötzlich sah sie es. Eine Flotte hielt auf die Westküste Mittelerdes zu. Es mussten Tausende Schiffe sein, die dort teils aus weiter Ferne heranfuhren, teils schon am Ufer angelegt hatten. Die Schiffe waren wunderschön, von strahlend weißem Holz und lieblicher Gesang begleitete ihre Fahrt. Aiya wusste, nun war die Rettung endlich gekommen. Ein einzelner Sonnenstrahl durchbrach zum ersten Mal seit Monaten die dicke graue Wolkendecke und Richtwerte sich genau auf Aiya, die dort am Ufer kauerte. Sein Schein spiegelte sich in den herannahenden Wellen wider, eine unvorstellbare Schönheit, die Aiya bisher noch nie gesehen hatte. Dann brachen ihre Dämme und langsam, Tropfen für Tropfen, bahnten ihre Tränen sich den Weg über ihre Wangen.

Der letzte Silmaril III: Ewiges LeidenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt