XXIV

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Cugulims sorgengezeichnetes Gesicht spiegelte sich in den grauen, unruhigen Fluten des Anduin wieder. Er war von seinem Pferd abgestiegen und stand auf einer der etwas behelfsmäßig hergerichteten Brücken in Osgiliath, zwei Menschen hinter ihm. Ihm war berichtetet worden, dass einer der Späher, die nach Túranto Ausschau hielten, heute hier in Osgiliath eintreffen musste, und dass er äußerst wichtige Informationen bei sich tragen würde. Seit einer halben Stunde warteten sie nun hier und Cugulim hatte die Zeit größtenteils damit herumgebracht, über die zerstörten Überreste dieser einst prächtigen und florierenden Stadt zu sinnieren und in die trostlosen Fluten des Anduin zu starren. Túranto war nun seit fast fünf Wochen weg und es war nur noch eine Sache von wenigen Tagen, bis er nach Minas Tirith zurückkehren würde, was vielleicht Cugulims dauerhafte und ihn stets verfolgende Nervosität erklären konnte. Der Maiar war das Zünglein an der Waage in seinem Plan und dazu auch noch die unbekannte Gefahr, die mit einem falschen Schritt jenen Plan zum sofortigen Scheitern verurteilen würde. Er musste wissen, wie viel Zeit ihm blieb, bevor der Maiar hier eintraf.
Ein entferntes Klackern unterbrach seine Gedanken. Der Späher musste schon ganz in der Nähe sein. Cugulim ballte seine Hand zur Faust, um seine zitternden Finger zu beruhigen, dann besah er sich einmal mehr die Umgebung. Die Ruinen, die Osgiliath auf beiden Ufern säumten, ließen seine Laune nicht steigen, vielmehr lösten sie in ihm eine gewisse Hoffnungslosigkeit aus, die ihm schier erdrückte. Ein Tropfen traf auf seinem Kopf auf und verlief sich in seinen Haaren. Cugulim hob den Kopf und warf einen kritischen Blick in die dunklen, fast schwarzen Wolken. Gleich würde es zu regnen beginnen, ein Wetter, das sich seiner Stimmung optimal anzupassen schien. Besonders zu dieser Jahreszeit war man hier vor plötzlichen und heftigen Regenschauern nie sicher und die Tatsache, dass sie jenem Regen hier schutzlos ausgeliefert waren, stimmte Cugulim nicht fröhlicher. Gerade als der zweite Tropfen auf seiner Nase auftraf, konnte er zwischen den Ruinen ein leises Wiehern hören und mit der Anzahl der Tropfen, die ihn trafen, nahm auch die Lautstärke des Klackerns zu. Es konnte nur noch ein bis zwei Minuten dauern, bis der Späher sie erreicht hatte, doch der Regen hatte offenbar nicht vor, so lange zu warten. Eine Minute, nachdem Cugulim den ersten Tropfen gespürt hatte, begann es, seicht zu nieseln, eine weitere Minute später ging der Regen bereits in Strömen auf sie herab. Einige weitere Sekunden später tauchte ein Reiter am Ende der Straße, die zu ihrer Brücke führte, auf und hielt in einem schnellen Trab auf sie zu. Beiden, Pferd und Reiter, war die Erschöpfung deutlich anzumerken. Der Gang des Pferdes war etwas verschleppt, als wäre es seit zwei Tagen durchgeritten und der Reiter, der in einen unauffälligen dunklen Mantel gehüllt war, hing mehr auf seinem Ross als dass er saß. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen, jetzt, da der Regen erbarmungslos auf sie niederprasselte. Gebannt verfolgte Cugulim jeden Schritt des immer langsamer werdenden Pferdes, bis es zwei Meter vor ihnen stehen blieb. Cugulim trat vor und nahm das erschöpft schnaubende Pferd am Zügel. Vorsichtig strich er dem Schecken einmal über den Unterkiefer, dann sah er zu seinem Reiter auf. Der junge Mann hatte seine Kapuze zurückgezogen und offenbarte ein schmales, fast noch kindliches Gesicht mit leuchtenden blauen Augen, leicht eingefallenen Wangen und wirrem braunen Haar, das ihm weit in die Stirn fiel. Dieser Junge musste kaum zwanzig Jahre alt sein, wahrscheinlich hatte er im Krieg seine gesamte Familie verloren und suchte nun nach einem Neuanfang weit weg von Zuhause. Auch wenn Cugulim selbst nur wenige Jahre älter war, erwachte ein ihm bisher unbekannter Beschützerinstinkt in ihm und er sah den Späher lächelnd an.
"Ich danke dir euch, dass ihr diese große und wichtige Aufgabe auf euch genommen hast", erklärte er sanft. "Ihr habt mir und dem gesamten Volk der Menschen einen großen Dienst erwiesen. Sagt mir, wie ist euer Name?"
"Jonar, Herr", antwortete der Junge und atmete schwer. Sein Ritt musste ihm alle Kraft genommen haben.
"Nun, Jonar, kommt mit und setzt euch ans Feuer! Dann könnt ihr mir alles erzählen, was ihr erfahren habt."
"Nein, Herr", meinte Jonar und schluckte. "Ihr müsst sofort erfahren, was euch erwartet, denn eure Zeit ist knapp."
Cugulim fiel für einen kurzen Moment in seine Gedanken zurück. Jonar schien es ernst zu sein mit seinem Anliegen, ihre Zeit musste noch begrenzter sein, als er gedacht hatte.
"Nun denn, sprecht", meinte Cugulim und wischte die Haare, die der inzwischen nachlassende Regen in sein Gesicht gewaschen hatte, mit einer Hand davon.
"Es kann nur noch eine Frage von zwei bis drei Tagen sein, bis Túranto hier eintrifft. Sie kommen zwar langsamer voran als erwartet, aber sind dennoch schnell unterwegs", begann Jonar. "Als ich meinen Posten verließ, um euch Bericht zu erstatten, hatten sie soeben das Meer von Rhûn verlassen und ich habe über eine Woche gebraucht, bis ich hier war."
"Das sind schlechte Neuigkeiten, aber wir sind darauf vorbereitet", meinte Cugulim und schluckte. Ihnen blieb offenbar weniger Zeit als erhofft. "Ich danke euch für euren wertvollen Dienst, Jonar. Ihr habt viel Gutes für euer Volk getan. Ruht euch ein wenig aus."
"Danke, Herr, aber eine Sache wäre da noch", warf Jonar ein. Der Regen hatte inzwischen stark nachgelassen und war kaum mehr als ein etwas stärkeres Nieseln. "Wir haben die Orks und den Maiar belauscht, um über ihre Pläne und Absichten Bescheid zu wissen."
"Und?", fragte Cugulim etwas ungeduldig. "Was habt ihr erfahren?"
"Eines Tages trafen sie auf ein Lager von Nomaden", erzählte Jonar. "Der Maiar hat sie fast im Alleingang vernichtet, aber einen der Menschen verschonte er. Es war wohl ein Schamane oder dergleichen und er sprach den Maiar als 'Herrn des Meeres' an."
"Mir war nicht bekannt, dass Túranto mit dem Meer in Verbindung steht", sagte Cugulim nachdenklich und starrte in das graue Wasser des Anduin, das sich im seichten Regen kräuselte.
"Nun, ich hoffte, es würde euch helfen", meinte der Späher und verbeugte sich.
"Vielleicht tut es das, Jonar", meinte Cugulim gedankenverloren und nickte ihm kurz zu. "Nun denn, reitet nach Minas Tirith und ruht euch aus. Euer Ritt muss beschwerlich gewesen sein."
"Ich danke euch, Herr", antwortete Jonar, dann stieg er auf sein Pferd und ritt an Cugulim vorbei in Richtung der Stadt.
Dieser blieb zurück, den Blick in die Strömung gerichtet. Der leichte Regen durchnässte seine Kleidung und seine Haare und einzelne Wassertropfen fielen auf sein Gesicht, doch Cugulim bemerkte sie nicht einmal. Sein Kopf hatte sogar das Klappern der Hufe von Jonars Pferd ausgeklammert, stattdessen hämmerte darin ein kleiner Halbsatz auf und nieder. 'Eine Sache von zwei bis drei Tagen' hatte der junge Späher gesagt und Cugulim vertraute seinem Urteil. Zwar waren die Vorbereitungen für ihren Plan weitestgehend abgeschlossen, aber seine Nervosität stieg mit jeder Minute, die Túrantos Ankunft näherrückte. Bald würde es soweit sein.
"Herr?"
Eine tiefe Stimme riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Ein wenig überrascht drehte er sich zu seinen Begleitern um, die, obwohl der kurze Schauer inzwischen geendet hatte, vollkommen durchnässt waren. Beide sahen sie ihn erwartungsvoll an.
"Ja?"
"Wir sollten aufbrechen", meinte der linke, etwas größere von beiden mit tiefer Stimme. "Uns bleibt nicht mehr viel Zeit."
"Ihr habt recht", antwortete Cugulim und nickte bekräftigtend. Schnell ging er zu seinem treuen Pferd und schwang sich hinauf. "Auf geht's."
Ríad drehte sich gehorsam im Kreis und sah auf die Weiße Stadt zu, die sich einige Meilen entfernt zum Himmel reckte. Er warf einen letzten Blick in die grauen Fluten des Anduin und sah tief in das dunkle, unruhige Wasser, das ihm eine Erkenntnis ließ: Der Kampf um die Freiheit Mittelerdes würde beginnen, und das schon sehr bald.

Der letzte Silmaril III: Ewiges LeidenWhere stories live. Discover now