Ruhe vor dem Sturm?

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Mit geschlossenen Augen sitzt Maria auf dem Boden. Ihren Rücken lehnt sie an die kalte Wand hinter sich, während ihre Augen geschlossen sind und sie sich zunehmend auf die Musik konzentriert, die aus Patricks Musikzimmer erklingt. Schon in den letzten Tagen war dieser Raum sein Rückzugsort und Ruhepool. Er schrieb viele Lieder, probierte sich aus und nahm teilweise sogar kleine Stücke auf, um sie an die Jungs seiner Band zu schicken. Maria war in dieser Zeit ein nicht selten gesehener Gast bei Patrick. Die beiden kamen sich die letzten Tage ein wenig näher und lernten sich besser kennen. Maria war froh in dieser Zeit nicht alleine zu sein. Der Zustand ihrer Mutter ging ihr sehr nah und sie schätzte es sehr, dass Patricks vier Wände Platz für sie boten.
Erneut erklingt Patricks Stimme aus dem Zimmer. Diesmal begleitet von einer Gitarre. Marias Augen öffnen sich beinahe schon zögernd. Schon seitdem sie Maite kennt ist sie unglaublich fasziniert von ihrer ganzen Familie und dem, was sie durchgemacht haben. Insbesondere Patrick blieb in ihren Gedanken hängen und nach Maites Erzählungen war sie sich sicher, dass sie den erfolgreichen Teeniestar und Ex-Mönch bereits zu Gesicht bekommen hat.
Schnell unterbricht sie ihren eigenen Gedankengang. Patrick scheint von ihrer Begegnung wohl nichts mehr zu wissen, weshalb sie sich dazu entschieden hatte keine alten Wunden aufreißen zu wollen.

„Du hast ein Tattoo?"
Maria zuckt leicht zusammen und blickt zu Patrick auf, der gegenüber an dem Türrahmen zu seinem Musikzimmer steht. Er schmunzelt, bevor Maria bloß nickt und auf ihren Arm blickt. Ihr dünner Cadigan gibt bloß den halben Schriftzug auf ihrem rechten Unterarm frei.
„Musik ist eine Welt in sich, mit einer Sprache, die wir alle verstehen.",ließt sie lächelnd vor und muss sich unweigerlich an die Zeit erinnern, in der sie sich diesen Schriftzug hat tätowieren lassen.
„Stevie Wonder also. Gibt es zu dem Tattoo auch eine Geschichte?",harkt Patrick interessiert nach und bekommt sofort den verwunderten Blick von Maria ab, der ihn schmunzeln lässt.
„Ich bin Musiker. So einige Sprüche kann ich sofort zuordnen."
Schmunzelnd reicht Patrick ihr seine Hand, die Maria nur zu gerne ergreift und sich von dem kalten Boden hoch helfen lässt. Patrick verschwindet wieder in seinem Musikzimmer, deutet Maria aber ihm zu folgen.

„Das ist... wow!"
Das Zimmer ist liebevoll eingerichtet, die Wände in einem leichten Beige gehalten und das große Fenster bringt genug Tageslicht in den Raum. In der einen Ecke ist ein Schlagzeug zu finden, in der anderen ein großes Klavier und direkt daneben ein kleines Keyboard. Die andere Ecke wird von Mikrofonständern belagert und in der letzten Ecke befindet sich eine graues Sofa. Patricks unzählige Gitarren finden ihren Platz an der Wand und einige Regale wirken so, als würden sie bereits überlaufen.
„My room.",antwortet er stolz, während er Marias Blick auffängt und neben sich auf das Sofa deutet. Sie lässt sich neben ihm nieder, jedoch mit genug Abstand.

„Also? Gibt es hierzu eine Geschichte?"
Sanft greift er nach ihrem rechten Arm und sieht sich das Tattoo genauer an. Die Schrift ist unglaublich zart gehalten, geschnörkelt und wirkt fast so, als würde sie einen Einklang mit Maria bilden, die selbst so unglaublich zierlich ist. Am Rand wird das Tattoo mit einem kleinen Kompass geziert.
„Mein Vater war Musiker. Er hat mir diese Welt ein wenig näher gebracht und mich ebenfalls für die Musik begeistert. Das Tattoo schien passend und ist mir erst in den Sinn gekommen, als er gestorben ist. Ich wollte ihn irgendwie bei mir haben."
„Und der Kompass?"
Sanft lächelnd streicht sie über ihren Unterarm.
„Er signalisiert das Zurechtfinden in dieser Welt. Musik gab mir immer eine gewisse Richtung für mein Leben."
„Gab?",harkt Patrick weiter nach. Kaum merkbar nickt Maria.
„Mein Vater ist sehr früh gestorben und mit ihm auch meine Begeisterung für die Musik. Ich bin in ein Loch gefallen und dort erst Jahre später wieder hinausgekommen. Meine Leidenschaft konnte ich aber nicht wieder mit hinausziehen.",gibt sie leiser als zuvor zurück und blickt zu Patrick, der sie zu Mustern scheint. Er versteht sie. Er hat nicht das gleiche erlebt, trotzdem versteht er es.
„Ich kann das wirklich sehr gut nachvollziehen.",erwidert er deshalb bloß leise und erwidert das sanfte Lächeln, dass Maria ihm schenkt, bevor sie ihren Blick wieder auf ihren Arm wandern lässt.
„Trotz allem behält das Tattoo für mich eine tolle Bedeutung. Mein Vater ist so immer bei mir und zeigt mir den richtigen Weg."
„Ich finde es toll, wenn Tattoos eine so persönliche Bedeutung haben."
Sie nickt. Es tut ihr gut mit ihm darüber zu reden.

„Ich habe damals oft mit meinen Geschwistern über das Zitat nachgedacht. Findest du wirklich, dass wir alle diese Sprache verstehen?"
„Herr Kelly wird tiefgründig?",lacht Maria und bringt somit auch Patrick zum Lachen.
„Ich glaube diese Seite ist tief in mir verankert, seitdem ich im Kloster war.",schmunzelt er.
„Ich glaube schon, ja. Die Leute, die wirklich in der eigenen Welt der Musik sind, verstehen auch diese Sprache."
„Und Missverständnisse? Man kann so vieles in verschiedene Lyrics reininterpretieren. Woher möchtest du wissen, was genau der Künstler damit meint?"
Interessiert lehnt sich Patrick auf dem Sofa zurück. Solche Unterhaltungen hat er eindeutig vermisst.
„Muss man das denn wissen? Geht es nicht in der Musik genau darum? Ich kann so viele Lieder auf meine Lebenssituation beziehen und weiß genau, dass der Künstler seine eigene, vielleicht andere damit verarbeitet. Musik ist so vielfältig und bietet, trotz ihrer unterschiedlichen Deutung, eine gemeinsame Sprache, mit der man sich ausdrücken kann und gehört wird."
„Wow, that's an argument."
Maria blickt lächelnd zu Patrick, der dieses bloß sanft erwidert und zu lässt, dass es still wird. Stumm schauen die beiden sich in die Augen, während ihre Gedanken in die unterschiedlichsten Richtungen gleiten. Maria wird zuerst aus ihren Gedanken gerissen, als sie das Klingeln seines Handys wahrnimmt. Patrick rührt sich kein Stück. Zu sehr ist er mit seinen Gedanken beschäftigt, die sich so lange zurückgehalten haben. Erst als Maria sich räuspert nimmt er ebenfalls das Klingeln wahr und steht auf, um an sein Handy zu gehen, das auf dem Klavier seinen Platz findet. Ein leises seufzen verlässt seinen Mund, als er Johns Name auf dem Bildschirm stehen sieht.

„Hey, brother!"
Patrick schmunzelt. Viel zu lange hat er sich nicht bei John gemeldet.
„Hey, was gibt's?"
„Hast du kurz Zeit?"
Sein Blick richtet sich zu Maria. Sie blickt auf ihr Tattoo und es scheint, als würde sie es genau Mustern.
„Ist etwas schlecht.",gibt Patrick schließlich zurück.
„Okay dann fasse ich mich kurz. Ich bin übermorgen bei Joey in Köln und möchte mich mit euch treffen. Ich muss etwas wichtiges loswerden und fände es toll, wenn du auch die Zeit finden würdest."
Er verdreht die Augen. Familientreffen? Das klingt schon in normalen Familien wie der reinste Horror.
„Kommt Angelo?"
Schweigen auf der anderen Seite. Das heißt wohl ja. Patrick seufzt.
„Paddy ihr seid Familie. Ich kann daran nichts ändern.",erwidert John und klingt schon fast ein wenig entschuldigend.
„Ich reiße mich zusammen. Sag das bitte auch Angelo."
„Du kommst?"
Er gibt einen zustimmenden Laut von sich und beendet das Gespräch relativ schnell wieder.

„Ich muss übermorgen nach Köln."
Maria nickt. Sie scheint völlig woanders mit ihren Gedanken zu sein, während sie sich den dünnen Ärmel des Cadigans wieder über ihr Tattoo streicht.
Patrick spürt plötzlich eine unangenehme Enge in seiner Brust. Maite ist auf Tour. Sie wird also nicht in Köln sein. Jimmy und Patricia hingegen schon. Was, wenn sie das Thema vor versammelter Mannschaft ansprechen? Nein! Patrick kann nicht zu diesem Treffen! Aber würde dies etwas ändern? Würden sie es trotz allem ansprechen?
„Alles okay?"
Vorsichtig schüttelt er den Kopf.
„Sorry, ich muss an die Luft.",gibt er knapp von sich, bevor er schon fast aus seinem Musikzimmer flieht und die Terrassentür aufreißt, durch die ihm sofort die warme Sommerluft entgegenpeitscht.
Zweifel. Patrick schließt seine Augen und tritt einige Schritte auf die Terrasse. Es ist seine Familie. Haben sie nicht langsam die Wahrheit hinter der sinnlosen Phrase "Klar geht's mir gut!" verdient? Warum zweifelt er? Jimmy und Patricia hatten es bis jetzt immer für sich behalten. Warum also nicht dieses Mal?
„Was geht dir durch den Kopf?"
Maria reißt Patrick mit ihrer sanften Stimme aus seinen Gedanken. Er lässt seine Augen geschlossen, zuckt trotzdem mit den Schultern.
„Zweifel. Und davon viel zu viele. Scheinbar waren die letzten Tage die Ruhe vor dem Sturm..."

Gegen den VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt