Am Abgrund

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Seine zitternden Hände legen sich zögernd an die Tür im Obergeschoss. Schon an ihr ist erkennbar, dass der alte Club ausgedient hat und heute nur noch als Treffpunkt der Jugendlichen gilt. Vorsichtig und mit einem leisen Knarren begleitet drückt Patrick die heruntergekommen Tür auf und wirft einen Blick in die Räumlichkeiten. Von dem alten Club ist nichts mehr erkennbar. Ein paar Scherben liegen auf dem Boden, vereinzelt stehen Bierflaschen herum. Die große Lampe wird nur noch durch ihr Kabel an der Decke gehalten und flackert verdächtig. Automatisch tragen Patricks Beine ihn weiter in den Raum hinein. Die Wände sind mit Graffiti und Kritzeleien beschmiert, wovon ihm ein Schriftzug besonders ins Auge fällt.
"Du hast hier so viele schöne Erinnerungen hinterlassen, Danke!"
Er ist bereits etwas ausgeblasst. Hier und da wurde schon über ihn geschrieben und doch hinterlässt dieser einfache Spruch ein leichtes Lächeln auf Patricks Lippen. Wie viele Leute mit diesem Ort wohl eine schöne Erinnerung teilen?

Leicht zitternd atmet er aus, ehe er sich weiter umblickt und an der Fensterfront hängen bleibt. Er sieht es noch genau vor sich.
Wie oft saß er doch damals mit seinen Geschwistern vor genau dieser Fensterfront und ließ den Abend, nach einem Konzert, ausklingen. Die Aussicht auf die Stadt und die vielen bunten Lichter hatten ihn schon damals begeistert und auch heute findet er dies überwältigend.
Sanft lehnt er seine Stirn an das kalte Glas des Fensters und schließt seine Augen. Joelle war ebenfalls ein nicht selten gesehener Gast in dem Club. Oft saß sie mit ihren Freundinnen zusammen, die sich in einem Zug über die Kellys lustig machten, und beobachtete Patrick unauffällig. Den Jungen mit den langen Haaren, der unglaublich beruhigenden Stimme und lustigen Art. Insbesondere dann, wenn er angetrunken war. Patrick schmunzelt. Wie oft er sich doch damals vor Joelle zum Affen gemacht hatte. Dabei hatte er ihre Blicke deutlich bemerkt und abgeneigt war er auf keinen Fall. Ja, an diesem Ort hat alles begonnen. Kaum zu glauben, dass er nun so zerstört ist und immer noch diese Erinnerungen in sich trägt.
Er richtet sich wieder auf.

Sein Blick gleitet zu der Dachterrasse. Die Tür fehlt und das Loch, in der diese eigentlich ihren Platz finden soll, ist lediglich mit einem Absperrband gesichert. Ohne groß zu überlegen nimmt Patrick eine, am Boden liegende, Scherbe zur Hand und befreit den Ausgang von dem Absperrband. Geschafft. Schritt für Schritt treibt es ihn weiter auf die Terrasse. Ihre Kanten hatte damals, aus Sicherheitsgründen, ein Geländer geziert. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Lediglich der Abgrund erstreckt sich hinter der Kante. Es ist schwül und doch ist die Sonne bereits vollkommen hinter dem Horizont verschwunden.
„Ich dachte nicht, dass ich noch einmal herkommen würde.",gesteht Patrick sich leise ein. Nervös beißt er auf seiner Unterlippe herum und spürt, wie sein Körper beginnt zu beben. So viele Erinnerungen, die seinen Kopf überfluten, durchlebt er.
Angefangen bei der Silvesternacht, in der Joelle sich ihren Mut angetrunken und Patrick angesprochen hatte, bis hin zu einigen Partys in ihrer späten Jugend, an dessen Kater er sich noch heute gut erinnern kann.
Er schluckt. Sein Mund ist trocken, seine Kehle schnürt sich förmlich zu. Mit all seiner Kraft versucht er die Tränen zurückzuhalten und schließt erneut seine Augen.
„Ich bin da.",gibt er mit erstickter Stimme von sich und lässt seine Augen langsam wieder aufgleiten.
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ist das das Ende?"
Seine Worte kommen nur schwer aus seinem Mund, während er weiter auf die Kante zuläuft und einen Blick hinunter riskiert. Es scheint, als wären all die Sorgen und Erklärungen nur eine kleine Pflanze, die, wenn man sie von einem Hochaus aus betrachtet, bloß ein Teil der kompletten Wiese darstellt.
Eine kalte Träne löst sich aus Patricks Augenwinkel und bahnt sich ihren Weg über seine warme Haut. Er fühlt nichts als Leere und Trauer in sich. Die guten alten Zeiten.

„Was willst du von mir? Ich weiß nicht, wie ich hier gelandet bin, was da passiert ist.",beginnt er zitternd zu sprechen. Er muss sich rechtfertigen. Vor und für sie. Sein Verstand kehrt ihm den Rücken zu. Langsam richtet er seinen Blick zu den Sternen hinauf. Sie verschwimmen leicht unter seinen Tränen, trotzdem erkennt er ihr Licht. Das kalte Licht und die falschen Hoffnungen, die in diesem liegen.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will hier bleiben, hier bei dir. Ich versuche die ganze Zeit herauszufinden, was das richtige ist aber ich weiß es nicht! I..ich weiß es einfach nicht. Bitte sag mir einfach, was ich machen soll.."
Seine Stimme bricht, wird von den vielen Tränen erstickt, die sich nun unaufhaltsam ihren Weg bahnen. Er schluchzt auf. Unterbewusst hört er einige Rufe, schenkt diesen aber keine Beachtung. Sie sind ohnehin zu Fern. Er ist bloß fixiert auf diesen Moment, sein Vorhaben.
„Ich habe so vieles falsch gemacht, so vieles an diesem einen Abend gesagt, das einfach falsch war! Ich wollte nicht, dass es so ein Ende nimmt! Ich bin ein Idiot! Ich habe alles zerstört..!"
Seine Stimme wird immer lauter. Es fühlt sich befreiend an.
„Warum war ich nur so blöd?!",schluchzt er und streicht sich im gleichen Zug seine Tränen von den Wangen, die sich sofort einen neuen Weg bahnen.
„Es tut mir so unheimlich leid..."
Fast nur noch ein flüstern dringt aus ihm hervor.

„Paddy.."
Patrick zuckt zusammen, dreht sich aber nicht um. Maite. Ihre Stimme würde er unter tausenden erkennen. Sofort richtet sein Blick sich wieder unter ihn. Zwei Polizeiwagen stehen am Eingang zum Haus und auch einige Passanten blicken zu ihm nach oben. Überfordert fährt er sich durch die Haare. Was tut er hier?
„Hey, komm bitte da weg. Wir können über alles reden."
Maites Stimme klingt sanft und doch ist ihr ihre Angst anzuhören. Bei dem Bild, das sich ihr bietet, kann auch sie sich ein paar Tränen nicht verkneifen. Doch sie muss stark sein, für sie beide.
„I..ich, woher..-?",stottert Patrick sich zusammen, bricht seinen Versuch etwas zu sagen dann aber doch ab.
„Jimmy hat mich angerufen. Paddy, es machen sich alle unheimliche Sorgen um dich. Komm bitte da weg."
Langsam geht seine kleine Schwester ein paar Schritte auf ihn zu, bleibt aber sofort stehen, als Patrick einen kleinen Schritt nach vorne macht. Sie streicht sich ihre Tränen von den Wangen. Jetzt ja nichts falsches sagen.
„Sollen sie nicht. Es ist alles okay."
Überzeugung hört sich anders an. Sein Blick gleitet wieder zu den Sternen hinauf.
„Weißt du noch, was ich dir bei Tricia gesagt habe? Nach Iggis Geburtstag?"
Er nickt. An ihre Worte erinnert er sich noch genau.
„Paddy, sie ist da oben, passt auf dich auf. Glaubst du wirklich, dass sie das hier gewollt hätte?"
Er schluchzt laut auf, schüttelt dann aber den Kopf. Nein, das hätte sie definitiv nicht.
„Es ist nur.. so verdammt viel."
„Du kannst nichts dafür, es war ein Unfall. Gib dir nicht die Schuld für etwas, das du nicht hättest beeinflussen können."

Unbemerkt tritt Maite ein paar Schritte näher an ihren Bruder heran. Sein schluchzen zerreißt ihr das Herz.
„Hätte ich und habe ich. Maite, ich bin Schuld daran!"
Vorsichtig legt sie ihre Hand auf seine Schulter und dreht ihren Bruder sanft zu sich um. Dieser blickt in ihre glasigen Augen und sofort breitet sich ein schlechtes Gewissen in ihm aus.
„Paddy, ich bin für dich da. Wir schaffen das, okay?",presst Maite gerade so hervor. Sie hat gehofft, dass sie diesen Ausdruck in Patricks Augen nie wieder sehen muss. Dieser Ausdruck von innerer Leere, Schmerz und Trauer. Patrick nickt und geht tatsächlich einige Schritte von der Kante weg, woraufhin Maite ihn sofort in eine feste Umarmung zieht und ihm beruhigend über den Rücken streicht. Bei Patrick brechen nun endgültig alle Dämme und all das, was er das letzte halbe Jahr an Trauer zurückgehalten hat, findet nun seinen Weg aus ihm hinaus. Er weint, sein Körper bebt und zittert. Maite verdrückt sich ihre Tränen. Sie ist mehr als erleichtert, auch, dass Patrick sich gerade ein wenig öffnen kann.
Es dauert eine ganze Weile, bis er sich wieder ein wenig gefestigt hat. Trotz allem vergräbt er seinen Kopf weiterhin an der Schulter seiner Schwester, die ihm immer noch über den Rücken streicht.
„Ich möchte dich wirklich nicht überfordern, aber die Polizei ist hier. Du weißt, was das heißt?"
Kaum merkbar nickt er. Es ist ihm bewusst, dass er die nächsten Nächte wohl hinter altbekannten Mauern in der Klinik verbringen muss.
„Wir wollen Dir wirklich nichts Böses. Lass die helfen, du erträgst dich ja selbst kaum noch."
Erst jetzt lässt Patrick seine kleine Schwester los und streicht sich seine Tränen von den Wangen, bevor er nickt. Mit einem letzten Blick in den alten Club schließt Patrick die Tür hinter sich und folgt Maite, die ihren großen Bruder ein wenig stützen muss. Zu schwach ist sein Körper wegen des Zusammenbruchs.

Bereitwillig lässt Patrick sich, aus Sicherheitsgründen, Handschellen anlegen und sich ins Auto helfen. Maite redet derweil mit einem der Polizisten und lächelt Patrick aufmunternd zu, bevor sich das Auto in Bewegung setzt und er seine Augen schließt.

Gegen den VerstandTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang