Päckchen der Vergangenheit

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Mit gesenktem Blick läuft Patrick zu einem der Tische. Das Tablett, auf dem sich sein Mittagessen befindet, hält er schon fast krampfhaft fest und doch merkt er das Zittern seiner Hände deutlich. Der große Raum, die vielen Menschen und ihr viel zu lautes Gemurmel machen ihn unfassbar nervös und lassen ihn keinen klaren Gedanken fassen. Gedanken, die sich ohnehin bloß überschlagen würden.
Langsam lässt er sich an einem leeren Tisch in der Ecke nieder, stellt sein Tablett auf diesem ab und atmet erleichtert durch. Seinen Blick lässt er erst gar nicht durch den Raum wandern. Er kennt sie. Die fragenden Blicke auf jemanden, der zum ersten Mal hier herein spaziert kommt und sich alleine an einen Tisch setzt. Auf jemanden, der so krampfhaft versucht nicht die Fassung zu verlieren und seinen Blick starr auf den Boden richtet.
Er seufzt, bevor er seine Gabel zur Hand nimmt und sich ein wenig des frischen Salates in den Mund steckt. Die Geräusche um ihn herum scheinen lauter zu werden und automatisch sinkt er in seinem Stuhl ein wenig mehr zusammen. Kurz hebt er seinen Blick, nur um festzustellen, dass eine etwas größere Gruppe wohl fertig gegessen hat und den Raum verlässt.
Ein leichter Schauer überkommt ihn, ehe er seinen Blick wieder abwendet und auf sein Essen richtet.

Plötzlich wünscht er sich wieder zurück. Zurück auf die geschlossene Station, hinter dessen Mauern er sich wunderbar verstecken konnte und sich kaum mit solchen Situationen auseinandersetzen musste. Noch vor 10 Minuten saß er bei Thomas, hatte mit ihm über die heutige Verlegung nach der einen Woche gesprochen und war stolz auf sich, dass er sich ein wenig öffnen konnte. Doch jetzt, hier in dieser Situation, scheint ihn alles zu überrollen. Seine Gedanken, Gefühle und einfach nur die äußeren Eindrücke nehmen überhand und schnüren förmlich seine Kehle zu.
Seufzend legt er seine Gabel wieder auf das Tablett und starrt weiterhin auf den unangetasteten Nudelauflauf auf dem viel zu vollen Teller.
„Was ist das denn für einer? Ist der neu?"
Patrick ignoriert die Kommentare hinter sich. Er weiß, dass auch er sich diese Frage gestellt hat und immer noch stellen wird. Schließlich ist jeder aus einem anderen Grund hier und man kann die Frage nach dem ›wieso‹ nicht immer in den Hinterkopf verbannen.
„Lasst ihn einfach. Ich glaube er hat genug andere Dinge im Kopf und braucht eure doofen Kommentare nicht."
Sofort wird es still an dem Tisch hinter ihm, was Patrick tatsächlich ein leichtes Lächeln auf die Lippen zaubert. Ein wenig entspannter greift er wieder nach der Gabel und zwingt sich dazu, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen.

Als sich der Raum jedoch immer weiter leert, wird auch er wieder angespannter und legt seine Gabel zur Seite, ohne überhaupt die Hälfte gegessen zu haben. Er fühlt sich unter Druck gesetzt, weshalb er seinen Blick schließlich hebt und sofort in Thomas Augen blickt, der einige Tische von ihm entfernt sitzt und ihn zu Mustern scheint.
Sofort stockt Patrick der Atem und er blickt nicht mehr in Thomas Augen, sondern in zwei, die ihm ebenfalls bekannt sind.
Schnell steht er auf und nimmt das Tablett zur Hand, löst seinen Blick aber nicht von ihren Augen. Sein Herz schlägt schneller. So schnell, dass er das Gefühl hat, es könne jeden Moment einfach so stehen bleiben. Seine Hände beginnen noch mehr zu zittern, sein Hals ist trocken und das Schlucken fällt ihm unheimlich schwer.
Im Augenwinkel sieht er wie Thomas auf ihn zukommt, doch in diesem Moment ist bereits alles zu spät.
Patrick kann die Kraft in seinen Händen und Armen nicht mehr aufbringen und mit einem klirren landet das Tablett, sowie alles darauf, auf dem Boden. Das Murmeln verstummt schlagartig und Patrick spürt alle Blicke auf sich. Trocken schluckt er, bevor er einen unglaublichen Druck in sich verspürt und merkt, wie seine Beine immer mehr einem Wackelpudding gleichen.

Plötzlich dringt nur noch ein Gedanke zu ihm durch. Er muss hier raus, schnellstmöglich!

Er löst den Blick von ihren Augen und schweift mit diesem kurz zu Thomas, der mit etwas Abstand zu ihm stehengeblieben ist, bevor Patrick sich umdreht und förmlich aus dem großen Raum flüchtet. Schnellen Schrittes eilt er durch die bekannten Gänge und ignoriert dabei die Rufe hinter sich ebenso, wie die irritierten Blicke der anderen Patienten. Er muss einfach in sein Zimmer. Seine Ruhe haben. Alleine sein.
Die Tür wirft er förmlich hinter sich ins Schloss und sofort kommt ihm eine unglaubliche Sommerhitze entgegen, da die Sonne direkt in sein Fenster scheint. Die Tür zum Badezimmer landet ebenso kräftig im Schloss und Patrick stützt sich erschöpft auf den Rand des Waschbeckens. Seine Gedanken und vor allem Erinnerungen überschlagen sich regelrecht und alles kommt zusammen, was ihm die Brust zuschnürt und schließlich dazu führt, dass er sich schnell vor die Toilette kniet und sich übergeben muss. Der innere Druck verschwindet sofort aus ihm, seine Gedanken fahren jedoch noch immer Achterbahn, als er sich kraftlos auf den Boden setzt und sich gegen die Wand lehnt.
Warum hat Maite nichts gesagt? Sie weiß es. Weiß, dass Patrick ihre Freundin bereits bei sich erkannt hat, sie jedoch nicht einzuordnen wusste. Doch genau dies weiß er jetzt. Maria, die damals das Zimmer neben ihm belegt hat. Maria, die immer mit ihren inneren Dämonen und ihrer Magersucht zu kämpfen hatte. Maria, die Patrick die ganze Zeit über gekannt, trotzdem kein Wort von der Vergangenheit verloren hat.
Er streicht sich mit seinen zitternden Händen seine Haare von der Stirn, die mittlerweile ein wenig an dieser kleben.
Er versucht seinen Körper zu entspannen, scheitert dabei aber kläglich und überlässt der Angst schließlich die Macht. Die Angst vor dem, das er sich selbst nicht erklären kann.

Erst als Thomas den Raum betritt, blickt Patrick zu ihm hoch und nimmt zitternd das Wasserglas an, das er ihm entgegenhält. In ein paar Zügen leer Patrick das Glas und konzentriert sich auf die kalte Flüssigkeit, die langsam seinen Hals hinunterläuft.
„Du bist wirklich der einzige den ich kenne, bei dem kaltes Wasser bei einer Panikattacke hilft.",sagt Thomas ruhig, nachdem Patrick seine Atmung tatsächlich wieder ein wenig unter Kontrolle gebracht hat und seinen Blick vor sich auf den Boden wirft. Er hasst solche Situationen. Damals hatten die beiden diese viel zu oft durchmachen müssen.
Thomas mustert ihn ruhig, drückt dann aber auf die Spülung und macht den Klodeckel runter, sodass er sich auf diesen setzen kann.
„Willst du reden, oder soll ich einfach nur hier bleiben?"
„Reden.",gibt Patrick leise zurück, hebt seinen Blick aber nicht. Noch immer konzentriert er sich auf seine Atmung und versucht auf andere Gedanken zu kommen.
„Es war wegen Maria, oder?"
Patrick zuckt mit den Schultern. War es das, oder waren es die viel zu großen Päckchen der Vergangenheit, die mit ihr verbunden sind?
„Sie ist mit Maite befreundet."
„Maria?"
Patrick nickt. Wollte Maite ihn schützen? Vor der Vergangenheit? Oder wollte sie vielleicht sogar Maria schützen..?
„Seid ihr euch draußen begegnet?",reißt Thomas ihn sofort wieder aus seinen tiefergehenden Gedanken.
„Zwei mal. Ich wusste sie kommt mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen."
„Und gerade wurde dir dann einfach alles zu viel.",stellt er fest, was Patrick erneut mit einem nicken beantwortet und sich ein weiteres Mal die Haare von der Stirn streicht.

Es wird Still zwischen den beiden. Patrick hört sein Herz noch immer gegen seine Brust hämmern, jedoch deutlich leiser als zuvor. Und obwohl sich diese Stille so leer anfühlt, steckt sie voller unausgesprochenen Antworten. Patrick ist dankbar sich nicht alleine seiner Angst hingeben zu müssen, während Thomas ihn immer wieder genauer mustert und zu verstehen versucht.
„Patricia und Jimmy wollten heute eigentlich vorbeikommen. Ich werde ihnen aber absagen."
Sofort schüttelt Patrick den Kopf und schaut zu Thomas auf, der seinen Blick ein wenig irritiert auffängt.
„I..ich möchte mit den beiden sprechen.",bittet er leise, woraufhin Thomas seufzt.
„Ich halte das gerade ehrlich gesagt für keine gute Idee.",gibt er schließlich seine Zweifel preis und blickt zu Patrick hinunter, der seinen Blick wieder abwendet. Er möchte mit den beiden sprechen. Unbedingt!
„Machen wir einen Deal?"
„Einen Deal?",harkt Thomas interessiert nach und fängt Patricks Blick wieder auf, der mit den Schultern zuckt.
„Ich rede und im Gegenzug lässt du mich mit meinen Geschwistern reden."
Thomas schmunzelt. Er weiß, dass für ihn bei dem Deal nicht viel rausspringen würde. Patrick öffnet sich auch so immer mehr und dies so gut er kann.
„Darum geht es mir gar nicht in erster Linie. Ich möchte dir ja auch auf keinen Fall den Kontakt zu deinen Geschwistern verbieten, aber du brauchst Ruhe. Vor allem dein Körper. Du weißt wie Panikattacken schlauchen."
Wissend nickt Patrick. Ja, das tuen sie ohne Zweifel.
„Ich möchte nur mit ihnen reden. Nicht durch den Park gehen, nicht durch die Klinik. Ich bleibe im Bett und rede mit ihnen.",versichert Patrick leise.
Thomas scheint ernsthaft über diese Alternative nachzudenken, nickt schließlich und reicht Patrick die Hand, um ihm hoch zu helfen. Noch immer zittert sein Körper und auch seine Beine fühlen sich unglaublich schwach und schwer an.

Gegen den VerstandWhere stories live. Discover now