60. Alte Wunden

3.6K 287 23
                                    


„Kann ich dir helfen?" fragte Magnus freundlich als er in die Küche trat. Maryse hatte sich eine Schürze umgebunden und bearbeitete gerade ein Suppenhuhn.
"Das ist lieb von dir, Magnus. Sehr gern. Möchtest du das Huhn oder das Gemüse übernehmen?"
Magnus hob leicht angewidert die Augenbrauen und fragte vorsichtig: "Das Gemüse?"
Maryse lachte und erwiderte: "Das dachte ich mir schon. Ich bin die Einzige, die sich mit dem Huhn auseinander setzt. Das war bei Alec und Izzy auch schon immer so. Da drüben liegt das Suppengemüse, das kannst du gern klein schneiden."
Magnus nahm dankbar das Messer und begann, das Gemüse zu zerkleinern. "Ich wusste gar nicht, dass du auch gern Suppen kochst."
"Mache ich auch nicht so gern, aber wenn eins meiner Kinder krank ist, dann hat diese Suppe immer geholfen."
"Wer ist denn krank?" fragte Magnus.
Maryse sah ihn überrascht an. "Alec. Er ist früher aus der Schule gegangen und lag den ganzen Nachmittag schon im Bett. Der Ärmste sieht fürchterlich aus, ganz rote Augen und richtig verquollen. Hat er nichts gesagt?"
Magnus richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gemüse. "Nein, er war nur sehr still."
"Das ist typisch Alec. So war er schon immer. Er hat schon als Kind nicht gesagt, wenn es ihm schlecht ging." seufzte Maryse und wusch das Suppenhuhn ab.
"Schon komisch, wo Isabelle einem ja selbst mitteilt, wenn ihr ein Fingernagel abgebrochen ist." lächelte Magnus.
Maryse seufzte. "Ja, sie könnten unterschiedlicher kaum sein, was das Mitteilungsbedürfnis betrifft. Ich schätze, das haben wir ihrem Vater zu verdanken." Maryse begann, das Huhn mit einem Fleischmesser zu zerkleinern.

Magnus wurde hellhörig, denn es war das zweite Mal in drei Tagen, dass der mysteriöse Vater von Alec und Izzy erwähnt wurde. "Wie meinst du das?"
"Hat Alec dir nichts erzählt?"
"Nein, wieso sollte er?"
"Naja, ich hatte das Gefühl, dass ihr beide richtig gute Freunde geworden seid. Ein bisschen hatte ich gehofft, dass er sich zumindest dir gegenüber etwas öffnet. Weißt du, nur seiner Mutter und seiner Schwester etwas anzuvertrauen, kann auf Dauer für einen Jungen in eurem Alter auch nicht gesund sein."
Magnus schluckte schwer und tat den ersten Teil des Gemüses in den Topf auf dem Herd.
"Wir haben über vieles gesprochen, aber darüber nicht."
Maryse schien kurz mit ihren Zweifeln zu kämpfen und begann dann zu erzählen:

"Alecs und Izzys Vater, Robert, ist ein sehr stolzer und ehrgeiziger Mann. Er ist ein angesehener Bauunternehmer in Boston und sogar im Stadtrat. Als ich ihn auf dem College kennenlernte, hat mich das unglaublich beeindruckt. Er wusste immer genau, was er wollte. Er hat immer gesagt, was er dachte und er war ein richtiger Mann. Einmal hat er sich sogar wegen mir geprügelt, weil sich ein Typ in der Bibliothek vorgedrängelt und sich nicht bei mir entschuldigt hatte.

„Er hatte klare Vorstellungen von seiner Zukunft, von unserer Zukunft und davon, wie unsere Kinder einmal werden sollten. Izzy war immer seine kleine Prinzessin, er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und Alec..
Alec war schon immer sehr nachdenklich gewesen. Nie wie die anderen Jungs in unserer Nachbarschaft. Während die anderen ohne Nachzudenken in die erstbeste Pfütze sprangen, zog er sich erst seine Schuhe und Socken aus, damit sie nicht nass wurden. Und das mit zwei Jahren. Es war so niedlich.

„Doch Robert fand, er wäre verweichlicht. Einmal waren wir im Urlaub in einem Hotel mit einem großen Pool, da musste Alec vielleicht vier oder fünf gewesen sein und konnte noch nicht schwimmen. Robert schrie ihn an, er solle ins Wasser springen, doch Alec dachte natürlich erst nach. Es endete damit, dass alle uns anstarrten, weil mein Mann ihn als Feigling beschimpfte und ihm immer wieder sagte, er solle jetzt endlich ein Mann sein."

Magnus schluckte schwer und er sah, wie seine Hand zitterte. "Und? Ist er gesprungen?"
"Nein, er stand bockig da und hat sich geweigert. Ich glaube, er hat erst in der dritten Klasse schwimmen gelernt." lachte Maryse.

"Robert gab natürlich nicht auf mit seiner Mission, aus Alec einen richtigen Mann zu machen. Darum ging er jedes Wochenende mit ihm in den Wald. Sein großes Hobby war Jagen. Er hatte bei uns ein richtiges Jägerzimmer mit Gewehren und Trophäen. Alec war schon immer ein großer Tier- und Naturfreund gewesen und darum ging er immer gern mit in den Wald. Und am glücklichsten war er, wenn Robert nichts geschossen hatte.

„An einem Montag, nachdem sie am Samstag wieder im Wald gewesen waren, rief mich die Schulkrankenschwester an und sagte, ich solle mit Alec ins Krankenhaus fahren. Da war er zwölf. Er hatte so starke Schmerzen gehabt, dass er beim Sportunterricht ohnmächtig wurde. Ich habe ihn sofort abgeholt und bin mit ihm ins Krankenhaus gefahren." Maryse's Stimme stockte und Magnus sah, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.

"Er hatte eine ausgekugelte Schulter, die sie wieder einrenken mussten. Mein Sohn hatte zwei Tage lang unerträgliche Schmerzen und hat kein Wort gesagt." Eine Träne lief über ihre Wange und sie wischte sie weg.
"Was war passiert?" fragte Magnus mitfühlend.
Maryse schniefte und fuhr fort: "Alec hat es mir erst erzählt, nachdem ich ihm versprochen hatte, dass ich seinem Vater nicht sage, dass ich davon weiß.

"Sie waren zu einem Hochsitz gefahren. Die Leitersprossen waren sehr weit auseinander und Alec hasste diese Hochsitze. Er blieb schon immer lieber auf dem Boden. Robert hatte ihn wieder angeschrien, er solle endlich mal ein Mann sein und ihn als Feigling beschimpft und schließlich war Alec hochgeklettert, um zu zeigen, dass er kein Feigling war.
Als er fast oben war, ist er abgerutscht und runtergefallen. Robert hatte ihm gesagt, er solle sich nicht so anstellen und schon gar nicht zu Hause erzählen, was passiert ist, weil sonst alle wüssten, was er für ein Feigling wäre."

Maryse's Tränen liefen nun über ihr Gesicht und Magnus nahm sie ihn den Arm. Er selbst sah auch nur noch durch einen Tränenschleier und er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Seine Stiefmutter in spe schniefte kurz und fasste sich dann wieder.
"Naja, kurze Zeit später trennte ich mich von Robert. Es war schon längere Zeit im Argen zwischen uns, doch wenn es um meine Kinder geht, kenne ich nichts." sagte sie stolz.
"Maryse, du bist eine der stärksten Frauen, die ich kenne und deine Kinder können sich sehr, sehr glücklich schätzen, dich als Mutter zu haben." sagte Magnus ehrlich und streichelte über ihre Schultern.
"Danke, Magnus." lächelte sie zwischen ihren Tränen. "Komm', wir machen die Suppe fertig, dann kannst du Alec gleich etwas davon nach oben bringen. Ich habe das Gefühl, dass es ihm in deiner Nähe bestimmt gleich viel besser gehen wird."

Magnus zwang sich ein Lächeln auf, doch es fühlte sich an, als würde sein Gesicht daran zerbrechen. "Nein, ich glaube, diese Suppe muss eine Mutter servieren. Ich werde in der Zwischenzeit die Küche aufräumen." bot er an.

Maryse lächelte liebevoll und sagte dann: "Magnus? Kann dieses.. Gespräch unter uns bleiben?"
Magnus erwiderte: "Meine Lippen sind versiegelt." Die Worte schmeckten bitter auf seiner Zunge.

Another Malec Story - Modern FamilyWhere stories live. Discover now