Kapitel 50

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Deine Sicht:
Das lange Tuten meines Handys macht mich nervös. Mit jedem weiteren Tuten sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Julie ran geht. Gleichzeitig verschwindet die Hoffnung, dass sie mir weiterhelfen kann. Dass sie weiß, wofür Papa das viele Geld brauchte...
,,Hallo?"
Ich zucke erschrocken zusammen.
,,Hallo, Julie! Ich habe eine Frage...", melde ich mich dann aber schnell zu Wort.
,,Wie kann ich dir weiter helfen?"
,,Papa hatte Schulden, weil er viel Geld zurückgelegt hatte, anstatt seinen Lieferanten zu bezahlen. Weißt du, warum?", ratter ich runter.
Es bleibt still am anderen Ende, Julie zögert...
,,Dein Vater und ich... Wir... Wir wollten abhauen, untertauchen, gemeinsam ein neues Leben starten... Dafür brauchte er das Geld", murmelt Julie schließlich kleinlaut.
Nun bin ich diejenige, die schweigt. Ohne ein weiteres Wort lege ich fassungslos auf. Man sollte meinen, mich würde nichts mehr überraschen bei meinem Vater, aber dass er uns verlassen wollte, ist wirklich zu viel. Zu gern wüsste ich, was in seinem Kopf vor sich ging...
Die Wut in mir steigt. Die Wut auf einen Mann, den ich meinen Vater nannte. Ein Mann, der seine Familie jahrelang belogen hat. Ein Mann, um den ich wochenlang getrauert habe... Er ist immer noch mein Vater, er hat mich unterstützt und als ich klein war, wie seine Prinzessin behandelt. Doch sobald ich alt genug war oder seine ach so tolle Julie da war, war ich nur noch Luft. Ich existierte für ihn vielleicht nicht mal mehr... Ich schmeiße meinen Nachttisch um und sacke zu Boden. Die Wut verwandelt sich in Trauer. Der Schmerz von Verlust und Einsamkeit ist unerträglich. Niemand kann die Lücken in meinem Leben füllen. Die Lücken, die meine Mutter, mein Vater und meine gesamte Familie hinterlassen haben... Ich habe niemanden. Genau so fühle ich mich, jeden verdammten Tag. Halb blind sehe ich mich in meinem Zimmer um, die Tränen verschwimmen meine Sicht. Mein Blick fällt auf ein Stück Papier, dass hinter meinem Nachttisch lag. Es ist zerknittert und weist Spuren von Wasser auf. Ich wische meine Tränen weg und nehme das Papier in die Hand. Es ist kein einfaches Papier, es ist ein Foto. Vielleicht von meinen Eltern, vielleicht von Lea, vielleicht von mir... Ich weiß es nicht, es muss hinter den Nachttisch gefallen sein, bevor ich meine Erinnerungen verloren hab. Ich drehe das Foto langsam um und schaue mir das Bild einige Sekunden an. Ein Mädchen und ein Junge, die mit strahlenden Gesichtern nebeneinander stehen. In der Hand jeweils eine Schultüte, auf dem Rücken die Ranzen... Der Junge trägt eine Brille, aber diesen Mund und diese Augen würde ich überall wieder erkennen. Der Junge, neben dem ich dort stehe, ist Heiko. Heiko Lochmann!

wasted & lost (I found myself in you)Where stories live. Discover now