Kapitel 51 - Der Jäger wird zum Gejagten

19 1 0
                                    


Noch immer war es Nacht über Weißfels, doch am Stand der Sterne konnte Ike erkennen, dass es nicht mehr lange bin zum Anbruch des Morgens dauern würde. Er hoffte weiterhin auf das Glück, dass sie bis zum ersten Sonnenlicht auch den anderen Drachenjäger in seinem Tun gestoppt haben. Leider ließ sich der Fremdling recht schwer einschätzen und sollte er immer noch bei der Überwältigung des Bergkammes feststecken, würde es umso schwieriger für Ike werden, ihn loszuwerden.
Auf dem Bergkamm gab es keine Bäume, nur schroffe Felsen und Kies. Vereinzelt wuchs ein Strauch oder ein mannshoher Busch zwischen den Felsspalten hervor, doch nichts, wohinter sich ein Drache wie Blitz verstecken könnte.
Unglücklicherweise hatte auch der sonst immer so dichte Nebel beschlossen, zu dieser Zeit nicht über dem Pfad zu liegen.
Weißfels Berge waren nicht wegen der geschwungenen Wege und schroffen Felsen gefährlich, sondern wegen des dichten Nebels, der meist das ganze Jahr über die Sicht erschwerte. Bauern und Jäger kannten den Weg, der sicher zum Tal oder zurück zur Stadt führte, aber für einen Laien konnte dieser Nebel sich als tödliche Falle entpuppen. Wer sich in ihm verirrte, kehrte meist nie wieder zurück.

„Zum Glück habe ich dich." Hatte Ike einst zu seinem Drachen gesagt, als sie an einem kühlen Herbstmorgen über die Bergpässe flogen und unter ihnen sich der Nebel wie ein weißes Meer ausbreitete.


Schon bald erreichten sie den besagten Bergkamm und Ike war erleichtert, als er unter sich die ziellos wandelnde Gestalt des Fremdlings ausmachen konnte. Bei diesem Tempo würde der Drachenjäger bis zur späten Mittagsstunde brauchen, um das Tal zu erreichen und damit die Jagd auf die Drachen zu beginnen. Ike überkam der Gedanke, ihn einfach weiter ziehen zu lassen. Weißfels war riesig, die Chance war sehr hoch, dass der Fremdling auf keinen Drachen stoßen würde. Swen hatte mehr Glück als Verstand gehabt und machte auf Ike einen cleveren Eindruck als diese glatzköpfige Gestalt.

Doch gleichzeitig könnte der Fremdling großen Glück haben und über einen Nadder oder Gronkel stoßen, der mit dem Bau seines Nestes beschäftigt war.

Blitz landete oberhalb des Bergkammes und ließ seinen Reiter absteigen. Ike kramte sogleich das Fernrohr heraus und blickte hinab zum Fremdling, der noch immer auf der Suche nach dem richtigen Weg ins Tal war.
„Ich schätze, dass wir noch zwei oder drei Stunden haben, bevor die Sonne aufgeht. Das bedeutet, dass die Eröffnungsfeier in der Stadt bald beendet sein wird. Wir müssen uns also beeilen, wenn wir diesen Typen aufhalten und rechtzeitig zurück zur Feier kommen wollen." Erklärte Ike seinem Drachen.

Ike hatte vor gehabt, in Anwesenheit aller wichtiger Mitglieder des Clans zu sprechen. Die beste Gelegenheit war dafür die Eröffnungszeremonie und die Abschlussfeier. Bis zur Abschlussfeier waren es aber noch sieben Tage. Genug Zeit für Swen und den Fremdling, zurück zur Stadt zu gelangen und ihr Versagen zu verkünden.
Diese Option stand außer Frage. Sollte Swen mit leeren Händen und ohne Erklärung zu Vadick und den anderen zurückkehren, könnte er genau so enden wie sein Vater. Und es wäre dann Ike's Schuld gewesen.
„Ich muss den anderen klar machen, dass ich die Jagd sabotiert habe, damit niemand Swen als Versager bezichtigen kann. Das ist zwar... riskant... aber ich werde ihn nicht unnötig in Gefahr bringen."

Doch nun galt es, den Fremdling zu stoppen. Sie konnten in diesem Terrain unmöglich dieselbe Taktik anwenden, wie bei Swen. Es gab zu wenig Orte zum Verstecken und es waren auch keine Drachen in der Nähe. Sie müssten Stunden lang ausharren, bis der Jäger auch nur in die Nähe eines vermeintlichen Nistplatzes käme und die Zeit hatten sie nicht.
„Blitz, ich habe da eine ziemlich dumme Idee." Gestand Ike nach einem längeren Hin und Her seiner Gedanken.
Der Skrill legte nur den Kopf schief.
„Okay, gut dass du meiner Meinung bist."


Reiker würde sich die Haare raufen, wenn er noch welche auf seinem Kopf tragen würde, doch schon mit jungen Jahren hatte er sich dazu entschlossen, sich den Schädel kahl zu rasieren. Es war zwar müßig, jeden morgen mit der rostigen Klinge über das Haupt zu gehen, doch mit der Zeit gewöhnte man sich an die Routine.
Woran er sich jedoch nie gewöhnen würde, war der felsige Aufstieg auf dieser von den Göttern verstoßenen Insel.
„Bei Thor's Hammer, dieser Ort ist doch verflucht. Kein Drache weit und breit und ich habe noch immer nicht die Spitze des Bergkammes erreicht." Murmelte er wütend in seinen dünnen Bart. Er hatte genug von Kiesel und Geröll und er verfluchte die Entscheidung, bei der Jagd teil zu nehmen. Doch es war natürlich wieder einmal der eigene Stolz gewesen, der ihn in diese Situation gebracht hatte.
Sein Bruder, der als klüger und gewitzter galt, wurde von ihrem Vater auf eine einsame Insel verbannt um seine Fehler zu überdenken. Dies war also Reikers Gelegenheit, sich in den Augen von Hallyrk zu beweisen. Doch scheinbar hatte er sich übernommen.
„Und Viggo wird mich auslachen, wenn er erfährt, welche Probleme ich bei der Jagd hatte. Tss, aber den Gefallen tu ich diesem Möchtegern-Anführer nicht."

Reiker hasste es, wie sein jüngerer Bruder, der zudem auch noch kleiner als er war, immer auf ihn herabblickte. Ja gut, es stimmte, dass Viggos Pläne meist immer die besseren waren, die ohne geringe Verluste zum besten Resultat führten. Dennoch war es stets Reikers Kraft gewesen, die einen Erfolg des Planes erst möglich machte.

Plötzlich begann die Luft um ihn herum zu vibrieren. Seine Zähne klapperten und es dröhnte in seinen Ohren. Doch er suchte nicht gleich Deckung, denn er wusste, was das bedeuten würde. Ein Drache kam näher.
Adrenalin schoss in seine Adern, als Reiker nach seinen Macheten griff und er suchte sofort den Nachthimmel nach den Umrissen des Biests ab.
Als er den Drachen endlich erblickte, machte sein Herz einen kurzen Aussetzer.

Ein ausgewachsener Skrill mit gleißenden Flügelmembranen stürzte auf ihn herab, das Maul zu einem lauten Brüllen geöffnet und mit einem blau leuchtenden Rachen.
Der Skrill war ein seltener und überaus gefährlicher Drache. Vermutlich sogar einer der gefährlichsten auf der Welt. Reiker lächelte breit bei dem Anblick der geflügelten, Blitze speienden Bestie. Der Kopf dieses Drachen würde ihn nicht nur die Gunst seines Vaters, sondern jeden Drachentöters im Nordmeer sichern.
„Sehr gut. Sehr gut, auf so einen wie dich habe ich gewartet. Und du ersparst mir auch gleich die Suche nach dir, wie brav von dir. Jetzt komm her und lass dir die Schuppen über den Kopf ziehen, Bestie."
Doch der Skrill blieb auf Entfernung. Weit genug, dass Reiker selbst im Sprung und mit einem ausgestreckten Arm seine Machete nicht ihr Ziel treffen lassen könnte.
Immer wieder sprangen Funken über die Haut des Skrills und sie illuminierten etwas großes auf dessen Rücken. Reiker kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, was es war. Ein Schatten schien dem Drachen im Nacken zu sitzen, groß wie ein Mensch. Doch das war unmöglich. Menschen ritten nicht auf Drachen.

Oder doch?

Seine Frage wurde beantwortet, als eine Person mit gezogener Klinge vom Drachen herab sprang und das Schwert auf Reiker nieder gehen ließ. Um den Angriff zu parieren kreuzte Reiker seine Macheten über seinen Kopf und fing die Klinge seines Angreifers auf.
„Sieh an, sieh an, es gibt also wirklich Solche, die auf Drachen reiten! Ein Drachenreiter! Wie amüsant!"
Er stieß den Angreifer zurück. Wegen der Kapuze des Fremden konnte er nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, doch er hatte eine Ahnung bei dem Anblick des schlanken Körpers.

„Komm her, meine Kleine. Lass Reiker dir zeigen, wie man mit einem Schwert zu kämpfen weiß." Spottete er.
Das ließ seinen Angreifer innehalten.
„Wen nennst du hier Kleine?"
Mit einer Hand riss sich der Angreifer die Kapuze vom Kopf und entblößte sein junges, rotäugiges Gesicht. Reiker war überrascht, dass es sich doch um einen jungen Mann handelte, und nicht um eine Frau wie zunächst vermutet.
„O ho ho, jetzt bin ich aber neugierig. Sag, wirst du bei deiner Figur oft als Frau verwechselt?"

Ike spürte die Hitze in seinem Gesicht aufkommen. Es war das erste Mal, dass ihn jemand mit einer Frau verwechselt hatte und er konnte es sich nicht verkneifen, kurz an sich herab zu sehen.
Er gab zu, er war nicht gebaut wie die meisten Männer in seinem Alter und sicherlich könnte man ihn verwechseln, wenn er sein Gesicht verbarg und es wirklich dunkel war. Doch der Skrill über ihren Köpfen warf mehr als genug Licht und das Fehlen eines deutlichen Vorbaus vor seiner Brust sollte klar machen, dass er ein Mann war.
„Dir stopf ich das Maul, Arschloch." Zischte Ike wütend. Er warf jegliche Vorsicht über die Schulter und griff Reiker mit wilden Schlägen an. Der Drachenjäger parierte die Schläge mit seinen Macheten. Da er zwei Waffen führte, viel es ihm leichter, die Angriffe von Ike zu blocken. Gleichzeitig konnte er aber nie genug Kraft mit einer Hand aufbringen wie Ike mit zwei und so endeten seine Paraden immer damit, die Klinge des Schwarzflügels umzuleiten.
„Du... bist doch ein Schwarzflügel." Stellte Reiker überraschend fest, als er sich daran erinnerte, dass nur Schwarzflügel diese rot leuchtenden Augen besaßen.
„Ja? Und was willst du damit sagen?" Fragte Ike zurück.
„Du reitest einen Drachen. Du verrätst deinen Clan!"
„Ich verrate ihn nicht, ich versuche ihn zu retten, du Schafskopf."
Er verlor sich etwas in seiner Wut. Erst als Reikers Machete knapp über seine Stirn fuhr, sprang Ike von seinem Gegner zurück und erinnerte sich daran, was Yennefer ihm gelehrt hatte.

„Einen Kampf zu führen, blind vor Wut, bedeutete den sicheren Tod. Kämpft stets mit klarem Kopf und versucht, eurem Gegner mindestens drei Schritte voraus zu sein. Lasst euch Zeit, beobachtet seine Bewegungen und versucht seinen Kampfstil zu durchschauen, dann ist euch der Sieg gewiss."

Er atmete tief ein und aus und ließ von seiner Wut ab. Reiker blieb ebenfalls auf abstand und kreuzte seine Waffen zu einem X vor seiner Brust.
„Du willst die Jagd verhindern?"
„Ich will sie beenden!"

Erneut krachten ihre Klingen aufeinander und das Geräusch schallte von den Flanken der Berge wieder. Nun war Ike deutlich ausgeglichener und ruhiger, die Schritte seines Gegners beobachtend und seine Attacken vorausahnend. Doch Reiker war ebenfalls ein hervorragender Schwertkämpfer. Er gab sich keine Blöße und wusste stets, Ike doch noch im letzten Augenblick zu überraschen. Gleichzeitig konnte er jedoch die Verteidigung des Schwarzhaarigen nicht durchbrechen.
Es war eine Pattsituation.

„Ich muss diesen Kampf leider schnell beenden. Nicht dass ich ihn nicht genieße, ganz im Gegenteil, ich liebe einen guten Kampf. Aber ich bin etwas unter Zeitdruck." Erklärte Ike, nachdem beide Kämpfer wieder auseinandergesprungen waren.
„Du willst schon gehen?" Fragte Reiker amüsiert. Er machte deutlich, dass er das nicht zulassen würde.
„Eher fliegen, aber... ja, ich mache mich vom Acker."
Reiker lachte darauf aus voller Kehle.
„Und was lässt dich glauben, dass ich dich gehen lasse?"

In diesem Augenblick erkannte Reiker, dass sein Gegenüber gar nicht zu antworten brauch, denn das hörbare Knistern in der Luft verriet ihm mehr als jedes gesprochene Wort. Er schaute hinauf zu dem immer noch in der Luft an Ort und Stelle fliegenden Skrill. Ein gleißender Lichtblitz schlug darauf vor seinen Füßen ein und Reiker wurde von der Wucht der Explosion rücklings durch die Luft geschleudert. Noch bevor er auf dem Boden wieder aufkam, verlor er das Bewusstsein.


Der Morgen begann zu grauen.
Mit einem Tau, mit dem für gewöhnlich kleinere Schiffe und Boote am Pier festgebunden wurden, fesselte Ike den ohnmächtigen Jäger an einen großen Felsen. Er war tatsächlich ein wenig traurig darüber, dass ihr Kampf so schnell wieder beendet wurde. Seit Daraels Abreise hatte er keinen so guten Gegner mehr gehabt und er hatte befürchtet, dass seine Fähigkeiten mit dem Schwert eingerostet waren.
Auf lange Sicht hätte er sogar gegen diesen Mann unterlegen.
Als alle Knoten noch einmal überprüft waren, ließ sich Ike vor dem Jäger nieder und klatschte ihm die Handfläche gegen die Wange.
„Hey, aufwachen. Du hast lange genug geschlafen."
Nach ein paar Schlägen schlug der Glatzköpfige benommen die Augen auf und schaute sich benommen um. Dann erkannte er die Lage, in der er sich befand und versuchte sich aus seinen Fesseln zu befreien. Vergeblich.
Seine Augen glühten vor Hass und Zorn, als er Ike erblickte, der ihn amüsiert anlächelte.
„Guten Morgen. Verzeih mir für deine unangenehme Lage. Ich verspreche dir, dass ich kommen und dich befreien werde, sobald ich mit meinen Angelegenheiten in der Stadt fertig bin. Und wenn nicht... bin ich mir sicher, dass deine Leute früher oder später nach dir suchen werden. Aber hoffen wir, dass das vor Einbruch des Nebels sein wird. Sonst sehe ich schwarz für dich."
Ike richtete sich wieder auf und klopfte sich den Staub von den Händen.
„Glogner.... Glibicht. Ichen tröten duchen, wrens ichen frusen dusen. "

Verstört über den unverständlichen Kauderwelsch hob Ike die Augenbrauen in die Höhe und drehte sich dann langsam zu seinem Drachen um.
„Hast du ihn verstanden?" Fragte er, doch Blitz schüttelte den Kopf.

„Wansen? Wansen sprochen dusen? Wansen yusen mochsen? WANSEN YUSEN MOCHSEN?" Brüllte Reiker wütend und völlig unverständlich.

Ike zuckte verständnislos aber auch nicht wirklich besorgt mit den Schultern.
„Keine Ahnung, was du da redest, Kumpel. Kann'es sein, dass du einen von den Blitzen meines Skrills abbekommen hast? Ist bei dir jetzt da oben etwas durch geschmort?"
Er klopfte Reiker mit den Fingerknöcheln vorsichtig gegen den Kopf, was den Jäger nur umso mehr toben ließ. Er wand sich hin und her und kämpfte gegen die Fesseln an, doch die Seile blieben fest.
„Tja. Viel scheint ja nicht kaputt gegangen zu sein. Wie auch immer, die Sonne geht gleich auf und ich habe nicht mehr viel Zeit. Man sieht sich."
Ike ignorierte das Gefluche des Drachenjägers und schwang sich zurück in Blitz seinen Sattel.

Nun, da die Jäger aus dem Spiel und die Drachen auf der Insel sicher waren, stand nun der letzte Teil von Ike's Plan bevor. Die größte Herausforderung für ihn bisher.

Nun musste er seinem Clan, und ganz besonders Vadick, davon überzeugen, mit der Jagd auf die Drachen ein für alle mal aufzuhören und Frieden mit diesen vielfältigen Wesen zu schließen.

„Eldarin, steh mir bei."
Und Drache und Reiter machten sich auf den Weg...


Drachenzähmen leicht gemacht - Die Schwarzflügel-ChronikenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora