II Gemeinsames Bild

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Völlig orientierungslos wanderte Bens Blick im Raum umher. Er dachte an einen Traum, zweifelte die Realität an. Es war zu ruhig, als dass dieses Feuer die Wahrheit hätte sein können. Kein Beklagen der Freunde, kein Husten und auch niemand der ihn aus dem Schlaf geweckt hatte.
Doch der penetrante Gestank des qualmenden Holzes und die schwere Luft, die er kaum einatmen konnte, zogen ihn zurück auf den Boden der Realität.
Hektisch erhob Ben sich, atmete instinktiv und äußerst schnell die Luft ein und begann stark zu husten.
>>Cliff!<<
Entkam es seiner Kehle laut, gefolgt von einem weiteren Hustenanfall. Benjamin wusste, dass er äußerst schnell handeln musste.
>>Leute!<<
Obwohl des in Flammen versinkenden Hauses, schienen seine Freunde nichts davon mitzubekommen. Schnell warf sich Ben auf die Knie, rüttelte Cliff und versuchte ihn aus dem Schlaf zu reißen.
>>Wir müssen hier raus Cliff!<<
Sein Versuch bewirkte jedoch nicht die geringste Bewegung beim Freund. Keine Reaktion, nicht mal ein Zucken. Es war so als wäre Cliff in ein tiefes Koma gefallen. Der Versuch die anderen aufzuwecken, endete mit dem gleichen tragischen Ergebnis.
Als Ben den Raum verlassen wollte, tastete er sich zur Tür nach vorne. Der Raum war bereits so sehr mit den dicken Rauchschwaden verkleidet, dass man die Hand vor Augen kaum noch sehen konnte.
Die eiserne Türklinke glühte förmlich vor Hitze und Ben riss die Hand unter Schmerzen zurück.
Der Weg durch das verschlossene Fenster würde wohl der einzige Ausweg sein können. Doch selbst wenn, so waren seine Freunde immer noch im Gefängnis aus lodernden Flammen gefangen. Bereits jetzt traf Ben ein tief in der Brust schmerzendes Stechen, das nicht Resultat des Feuers oder der schlechten Luft war.
Er konnte seine Freunde nicht einfach so hier zurücklassen, nur um sein eigenes Leben retten zu können.
Leider hatte er nicht sehr viel Zeit zum Überlegen, da die Flammen sich immer weiter ausbreiteten, heißer wurden und keine Fehler zulassen würden. Schnell wandte er sich um und richtete sich wieder der Tür zu. Entschlossen winkelte er das Bein an und trat mit enormer Kraft auf die Holztür ein. Das erste Mal ohne Erfolg. Beim zweiten Schlag brach die Tür aus dem Schloss und lag lose in den Angeln des Türrahmens. Die Tritte hatten Kraft und Luft gekostet. Die durch die Lungen inhalierte Luft war vergiftet, schmerzte und verabreichte ihm einen warnenden Schwindel. Hier wurde ihm das gleiche Schauspiel offenbart wie im Nebenraum. Im Zentrum des Raums, vor dem Kamin schliefen ebenfalls ein paar seiner Freunde. Doch auch sie rührten sich nicht, gaben keinen einzigen Ton von sich.
Schnell griff er nach einem Stofflappen, der auf der hölzernen Kommode, neben der Tür stand und benutzte ihn als Luftfilter, indem er das Stück Stoff gegen den Mund presste.
>>Dillon! Clara!<<
Rief er die Namen seiner Freunde, in der Hoffnung sie würden ihn hören. Er näherte sich den Freunden unaufhaltsam. Als ihn nur noch wenige Schritte von seinen Freunden trennten, war es so als würde das Feuer einer Spur aus Öl oder Benzin folgen. Es kreiste die Freunde regelgerecht ein und machte sie für Ben somit unerreichbar.
>>Nein!<<
Als das Feuer in diesem Raum immer dichter wurde, trat er einige Schritte zurück. Glücklicher Weise tat er das gerade im richtigen Moment, den ein dicker Holzbalken der Dachkonstruktion brach nach unten und landete nur knapp neben Ben.
Wieder im Nebenraum angekommen, wollte er Cliff und Richard helfen. In dieser äußerst aussichtslosen Situation sah er nur noch einen Ausweg. Er würde es nicht mehr viel länger hier durchhalten. Der menschliche Instinkt befiehl ihm zu flüchten – durch das Fenster.
Er nahm einen Holzhocker, der an der Wand stand und schmiss ihn geradewegs durch das Fenster. Im Nachhinein stellte sich das als fataler Fehler heraus. Mit dem Durchgang nach draußen, wurden die Flammen von der Frischluft gespeist und konnten somit noch schneller an Größe gewinnen. Es war geradewegs wie eine Explosion, die durch Bens Handeln ausgelöst wurde. Die unnachgiebige Hitze peitschte Ben regelgerecht Schmerzen ins Gesicht. Als er Cliff packen wollte, um ihn hinaustragen zu können, ummantelte das Feuer unerwartet und äußerst schnell Cliff.
Plötzlich riss er die Augen auf, schrie laut vor Schmerzen.
Das Feuer umarmte ihn und ließ Benjamin die Konsequenz dieses Alptraums mit den eigenen Augen erkennen.
Es bedarf wohl keiner weiteren Worte, um zu erklären, was mit Cliff passiert war.
Ben schrie natürlich hysterisch auf, konnte nicht fassen was hier gerade passiert war.
>>Nein, nein – nein! Cliff!<<
Im Endeffekt gab es jedoch keinen anderen Ausweg mehr. Er musste das Haus jetzt verlassen, ehe die Flammen auch ihn verschlingen würden.
Er hustete stark und wusste, dass er es nicht mehr lange durchhalten würde. Daher nahm er Anlauf, sprintete durch die Flammen und sprang aus dem zerbrochenen Fenster.
Das Ganze sah weniger nach einem Filmstunt aus. Er verletzte sich, Schnitt sich Arme und Beine während des Sprungs auf. Das Fenster war zwar zerbrochen, hatte jedoch immer noch scharfkantige und spitzige Überreste des Fensterglases an sich.
Hart auf dem Boden gelandet, robbte er die Veranda entlang, hustete stark und rang nach Luft. Er spürte die Schnittwunden an Händen, Armen und Füßen – sie schmerzten ungemein. Er war sich bewusst, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Das Atmen fiel ihm schwer. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er packte das Handy aus der Hosentasche und drückte schnell eine Kurzwahltaste.
Während es klingelte, hustete er stark. Es dauerte nicht lange, bis jemand abnahm.
>>Ben?<<
Erklang dann Roberts stimme fragend. Benjamin hustete wieder laut, bekam kaum ein Wort heraus.
>>Robert! Das Haus... Feuer...<<
Bekam er nur sehr schwer aus sich heraus.
>>Beni ganz ruhig, was ist los?<<
Hakte der Bruder erneut nach, konnte im ganzen Wirbel nicht verstehen, was passiert war. Doch im Hintergrund hörte Robert einen lauten Schlag und es folgten weitere. Das Haus brach langsam in seine Bestandteile auseinander.
>>Cliff und die anderen...<<
Drang es immer schwächer werdend aus Ben heraus, ehe es dann leise wurde.
>>Ben?<<
Robert wartete kurz ab, aber der Bruder antwortete nicht mehr.
>>Benjamin?!<<
Rief Robert in das Handy. Doch sein Bruder gab ihm nicht die erhoffte Antwort.
>>Verdammt!<<
Schrie er dann in das Handy und unterbrach die Verbindung.
Robert war gerade auf dem Weg nach Peoria zurück. Natürlich wusste er vom Aufenthaltsort seines Bruders Bescheid. Der Sand Ridge State Park war jedoch noch ein wenig mehr als 40 Meilen entfernt und Robert konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob er denn auch rechtzeitig ankommen würde. Das war auch der Grund warum Robert den Notruf verständigte. Gleich nach seinem Anruf trat er das Pedal bis zum Anschlag nach unten und holte alles aus dem 100er Coupé raus.
>>Ich bin gleich bei dir.<<
Robert beeilte sich, wollte so schnell wie nur möglich bei seinem Bruder sein. Der Gedanke, er hätte seinen Bruder verlieren können, quälte ihn. Er konnte diese böse Vorahnung nicht von sich werfen, musste an den Unfall seiner Eltern denken und an die Konsequenzen, die heute Nacht vielleicht folgen würden. Benjamin war alles was ihm von seiner Familie über geblieben war. Robert überholte einen Wagen nach dem anderen und ließ vom riskanten Fahrstil nicht los. Die Landstraße in Richtung Sand Ridge State Park war leer. Einzig und allein die Zeit stellte sich ihm entgegen. Das vom Staat aufgestellte Regelwerk für die Straßen war nun nicht mehr als ein lästiges und zeitraubendes Hindernis, welches er gekonnt ignorierte.

Rauchschwaden in der Ferne, er konnte sie zwischen dem Dickicht des Geästs erkennen. Zudem war da das Blaulicht. Rettungsdienst, Krankenwägen und Feuerwehr waren vor Ort.
Robert ließ das Auto mitten auf der Straße stehen, da die Polizeiwägen den direkten Weg zur Straße versperrten.
Er schnellte aus dem Auto und rannte zur Hütte.
Alles was von der Hütte übrig geblieben war, war nicht mehr als ein Berg aus glimmenden Ruinen und Holzkohlen, welche im Entferntesten an ein Haus erinnerten.
>>Ben!<<
Verließ der fast schon flehende Ruf nach seinem Bruder, Roberts Kehle.
Plötzlich stellte sich einer der Polizisten Robert in den Weg, hielt ihn an der Schulter fest. Doch zu diesem Zeitpunkt war es Robert recht egal. Er war fest entschlossen nach seinem Bruder zu suchen.
>>Sie können hier nicht durch. Es gab einen schweren Brand.<<
Der aufgeregte junge Mann stieß den Polizisten dann mit Gewalt von sich und rannte weiter in Richtung Hausruine.
>>Ben!<<
Rief er dann und schaute sich um.
>>Sir, haben Sie nicht gehört!?<<
Die begrüßende Geste Roberts war natürlich nicht unbedingt eine angemessene Reaktion.
>>Wer sind sie eigentlich und was haben Sie hier zu suchen?<<
Roberts Blick schnellte in alle Richtungen. Er versuchte Benjamin irgendwo ausfindig machen zu können. Seine eilige Suche war jedoch nicht mit Erfolg gekrönt. Daher wandte er sich wieder zum Polizisten um.
>>Robert Weatherby, ich habe wegen dem Brand angerufen. Mein Bruder ist in dem Haus.<<
Der Polizist nickte knapp.
>>Es tut mir Leid Mr. Weatherby, Sie können den Unfallort jetzt nicht betreten. Die Rettungskräfte haben ihre Arbeit noch nicht erledigt.<<
Robert waren die Worte des Mannes egal.
>>Mein Bruder ist dort irgendwo. Er hat mich angerufen.<<
Der Polizist nahm einen ruhiger werdenden Tonfall an, versuchte Robert die aktuellen Erfahrungen der Polizei mitzuteilen.
>>Mr. Weatherby, das Haus ist abgebrannt und keiner der zum Zeitpunkt des Brandes im Haus war hat es bis hier her geschafft. Es tut mir Leid Mr. Weatherby.<<
Aufgeregt sah der junge Robert zwischen dem Polizisten und den Rettungskräften hin und her.
>>Nein, er hat mich angerufen! Er kann nicht tot sein!<<
Wieder drehte sich Robert vom Polizisten um, rannte dann in die Nähe der glimmenden Überreste.
>>Ben!<<
Die Verzweiflung war deutlich aus dem Tonfall des jungen Mannes herauszuhören. Er formte die Hände zu einem Trichter zusammen und hielt diese nah an seinen Mund, während er laut den Namen seines Bruders schrie. Dies tat er einige Male und sah sich nach jedem Ausruf hilflos um. Doch es führte zu keinem Ergebnis. Als er die Hände wieder fallen ließ, spürte er das Handy in seiner Lederjacke. Schnell griff er in die Tasche seiner schwarzen Jacke und wählte Bens Nummer.
Der Polizist, welcher so eine so unliebsame Begrüßung von Robert in Erfahrung bringen musste, erreichte Robert schließlich erneut.
>>Sir ich muss sie jetzt bitten diesen Ort zu verlassen. Die Rettungskräfte werden sich um alles Weitere kümmern.<<
Weatherby wollte nicht hören, deutete dem Polizisten an, ruhig zu sein, indem er den Arm anhob und linke Handfläche präsentierte. .
>>Hören Sie das nicht?<<
Und tatsächlich war das leise Klingeln einer Melodie zu hören. Robert kannte diesen Klingelton und zu seiner eigenen Erleichterung kam dieser Ton nicht etwa vom Haus.
>>Er ist nicht unter dem Schutt begraben.<<
Stellte er ernüchternd, mit äußerst leiser Stimme fest.
>>Was?<<
Setzte ihm der Polizist fragend entgegen.
>>Es kommt aus dem Wald...<<
Mit dem Handy in der Hand, ließ er sich von Bens Klingelton leiten. Robert rannte so schnell er konnte. Etwa 30 Meter vom Haus entfernt fand er seinen Bruder schließlich. Er lag reglos am Boden.
>>Hier ist er!<<
Schrie Robert den Polizisten entgegen. Robert bückte sich hinunter zu Ben, welcher mit dem Bauch auf dem Boden lag und die Augen geschlossen hatte. Staubige Asche bedeckte seinen Körper. Nachdem Robert seinen Puls überprüft hatte, musste er erleichtert feststellen, dass Benjamin noch am Leben war.
>>Es wird alles gut Kleiner.<<
In diesem Moment fiel Robert ein riesiger Stein vom Herzen. Sein Bruder hatte dieses schreckliche Feuer überlebt und nun kümmerten sich auch schon die Sanitäter um ihn.
>>Wir brauchen eine Trage!<<
Schrie einer der Sanitäter dann zu einem der anderen. Schließlich packten sie Ben auf eine Trage.
>>Rauchvergiftung. Beatmung durch Sauerstoffzufuhr und dann ab in die Klinik.<<
Wies einer der Sanitäter dem Fahrer an.
Ben war noch nicht über den Berg und das wusste Robert. Besorgt fuhr er sich mit beiden Händen durch das Haar und ließ seine Hände auf dem eigenen Kopf ruhen. Er konnte es immer noch nicht fassen. Sein Blick verfing sich wieder auf den Überresten des Hauses. Die schreckliche Vorstellung, dass sich Bens Freunde noch immer unter den Überresten des Hauses befanden ließ Robert nicht mehr los.
>>Keine Sorge, die Leute vom Rettungsdienst werden sich um Ihren Bruder kümmern Mr. Weatherby.<<
>>Wie konnte das nur passieren?<<
Wollte Robert wissen, doch der Polizist seufzte nur etwas, konnte ihm keine sichere Antwort darauf geben.
>>Nun ja. Vielleicht waren sie unachtsam mit dem Feuer. Vielleicht war Alkohol im Spiel und sie merkten nicht was passiert war. Wir werden Sie auf jeden Fall auf dem Laufenden halten.<<
Robert nickte zaghaft und stumm. Doch er konnte nicht glauben, dass es ein Unfall war. Er kannte die Clique von Ben. Sie waren allesamt vorbildliche Musterschüler, hätten nicht einfach so ein Feuer ausbrechen lassen. Dass Ben wohlmöglich der einzige Überlebende war, machte ihm am meisten Sorgen. Sein Bruder würde das nicht verkraften können. Neben Robert waren sie alles was er noch hatte.
>>Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?<<
Nachdem sein Bruder in Sicherheit war, wollte er Bens Freunden helfen. Der Polizist schüttelte den Kopf.
>>Tut mir Leid, Sie können hier genauso wenig machen wie ich.<<
Robert schluckte schwer als er das hörte. Ein weiteres Ereignis, das beide Brüder einholte. Bens Leben würde sich dadurch stark verändern und somit auch Roberts.
Später war auch Robert im Krankenhaus von Peoria. Ben lag auf der Intensivstation, wurde künstlich beatmet, da das Kohlenmonoxid seine Lungenfunktionen beeinträchtigt hatte.
Als Robert seinen Bruder durch die Fensterscheibe so hilflos sehen musste und erkannte, dass er alleine hier war, wurde ihm bewusst, wie einsam Ben in Zukunft doch sein würde.
Einige seiner Studienfreunde kannte Ben bereits aus dem Kindergarten. Robert musste vor allem an Cliff denken, der immer für Ben dagewesen war. Als Benjamin eines Nachmittags wegen eines gebrochenen Beines ins Krankenhaus eingeliefert wurde, blieb der damals 14 jährige Cliff bis zum späten Abend bei Ben. Die Eltern von Cliff waren außer sich vor Sorge und erst als Jeffrey mitbekommen hatte, was mit dem kleinen Benjamin passiert war, informierte dieser Cliffs Eltern. Das war am späten Abend. Seine Eltern kamen ins Krankenhaus, um ihren Sohn abzuholen. Doch Cliff war nicht mehr hier. Genau so wenig wie all die anderen Freunde von Ben. Robert selbst hatte nie wirklich viele Freunde. Natürlich gab es die eine oder andere Bekanntschaft aus der vergangenen Schulzeit oder der Arbeit. Man grüßte sich, wenn man sich zufällig sah, sprach über Belanglosigkeiten und log sich gegenseitig an, dass ein baldiges Treffen recht nett sein konnte. Doch Robert hielt nicht sehr viel von solchen Nettigkeiten. Im Moment gab es nur eine Person, mit der er Kontakt aufnehmen wollte - Rebecca. Darum war das der Moment, in dem er sich entschied sie anzurufen. Es war bereits früh morgens geworden. Um genau zu sein, war bereits die fünfte Stunde des Tages vergangen. Robert musste daran denken, was passiert wäre, wenn er diese nächtliche Fahrt nicht unternommen hätte. Wenn er bei Rebecca gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich schon längst geschlafen und hätte vielleicht sogar Benjamins Notruf verpasst. Oder wenn er gar in Chicago gewesen wäre – die Distanz wäre viel zu groß gewesen, als dass er schnell hätte hier sein können. Er musste daran denken, was passiert wäre, wenn man Benjamin nicht gefunden hätte. Diese Gedanken ließen ihm einen kalten Schauder über den Rücken fahren. Schließlich wählte er die Nummer und wartete auf ihre Antwort.
>>Robert?<<
Rebecca erkannte seine Nummer, war äußerst verwundert über den frühen Anruf. An ihrer verwunderten und müden Stimmlage erkannte er, dass er sie geweckt haben musste.
>>Becca...<<
Er verschnaufte kurz, strich sich mit der freien Hand über das Gesicht. Die junge Frau, die den Anruf entgegengenommen hatte, bemerkte sofort an Roberts Stimmlage, dass irgendetwas nicht in Ordnung zu sein schien.
>>Robert, was ist passiert?<<
Nach einigen für ihn laut hörbaren Herzschlägen gab er ihr schließlich Rede und Antwort, auch wenn es ihm schwer fiel.
>>Ben und seine Freunde – es gab einen Unfall Becca.<<
Rebecca wurde aufmerksamer, hakte schleunigst nach. Die Müdigkeit entfernte sich von Rebecca und nun klang sie aufgeregt und hakte hektisch nach.
>>Was ist passiert? Geht es ihm gut?<<
>>Er wird's überstehen...<<
Dann verschnaufte Robert etwas.
>>Aber seine Freunde... Becca..<<
Er wollte ihr diese schrecklichen Nachrichten eigentlich nicht mitteilen. Auch Becca kannte die nun zerschlagene Clique. Clara Egan war eine Freundin von Rebecca gewesen. Robert wollte sie mit dieser Nachricht nicht alleine lassen. Nein – dafür sorgte er sich zu sehr um sie.
Vor dem Unfall gab es eine Zeit, in der Robert die Werkstatt auch während der Öffnungszeiten verlassen konnte, da Jeffrey sich währenddessen um den Laden kümmerte. Robert sollte seinen Bruder an einigen Tagen von der Universität abholen, damit Ben in der Werkstatt helfen konnte. An einem milden Frühlingsnachmittag, als Robert am Straßenrand auf seinen Bruder wartete, lernte er Rebecca kennen. Nun ja – es war weniger ein Kennenlernen als vielmehr ein kurzes und zufälliges Aufeinandertreffen. Robert war bereits ungeduldig geworden, da Benjamin eigentlich schon vor 15 Minuten hätte da sein sollen. Der Junge hatte es früher einfach nicht so mit der Pünktlichkeit. Es war die Zeit, in der die Natur wieder zum Leben erweckt wurde, die Äste erste Knospen trugen und die Studenten sich wieder auf die Grasflächen trauten.
Nicht etwa Ben, sondern eine andere Person zog Roberts Aufmerksamkeit in diesem Moment auf sich. Rebecca, eine junge Frau von zierlicher Gestalt. Das glatte, lange und hellblondes Haar reichte ihr bis kurz unter die Schultern.
Ihr Blick erreichte Robert, wurde von einem schmalen Lächeln ihrer Lippen begleitet. Nur ein Sekundenbruchteil, während sie an ihm vorbei ging.
Ein Blick in das grünblaue Augenpaar reichte aus, um Robert etwas über diese junge Frau erzählen zu können. Er konnte die Augen nicht mehr von ihr lassen, dachte er hätte sie schon einmal gesehen - früher. Sie war nur ein wenig jünger als Robert. Etwa ein Jahr trennte die beiden. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie das 24. Lebensalter, um genau zu sein. Sein Gefühl sagte >Ja<, seine Erinnerung >Nein<. Als sie bereits am Auto vorbeigegangen war, wollte sich der junge Mann absolut darüber im Klaren sein, ob er sie wirklich irgendwo her kannte. Ganz automatisch stieg er aus dem Wagen aus, schlug die Tür hinter sich zu und blickte ihr nach.
Sie wandte sich nochmal kurz um, bevor sich die beiden Blicke erneut kreuzten. Nein, er konnte sie keiner seiner Erinnerung eindeutig zuordnen. Er dachte vielleicht sogar daran, dass er sich das alles nur einbildete.
Unerwartet klopfte eine Hand dann auf Roberts Schulter.
>>Hat Becca dir was getan?<<
Es war Benjamin. Stirnrunzelnd und genervt wandte Robert sich dann zu Ben um.
>>Was?<<
Ben deutete kurz auf die junge Frau.
>>Rebecca Law. Sie besucht einige meiner Kurse. Warum siehst du sie so grimmig an?<<
Doch Robert kehrte schnell zum Alltag zurück, erinnerte Ben an seine Unpünktlichkeit..
>>Du bist zu spät – schon wieder.<<
Ben verdrehte die Augen.
>>Ich hatte ein Gespräch mit Prof. Cunningham.<<
Roberts Blick blieb verärgert und er sah seinen Bruder für einige Herzschläge lediglich an, ehe er mit einem Seufzen die Tür des Wagens öffnete.
>>Steig ein.<<
Wies Robert seinem Bruder an. Als Ben den Beifahrersitz belegte, sprach er munter auf seinen Bruder ein.
>>Warum bist du so wütend? Es sind nur ein paar Minuten gewesen und das Gespräch war wichtig.<<
>>Ein paar Minute? Ben, es geht hier nicht um ein paar Minuten, es geht hier ums Prinzip. Du bist nie pünktlich, machst was du willst und das immer wieder. Wir können froh sein wenn uns Dad nicht den Kopf abreißt.<<
Dann zündete Robert den Motor und sie machten sich beide auf den Weg zur Werkstatt. Jeffrey Weatherby war ein gerechter, aber auch durchaus strenger Vater und ließ für solche Situationen Konsequenzen walten. Das Benjamin sich für die Thematiken seiner Kurse auch außerhalb beschäftigte, war Jeffrey ziemlich gleich.
>>Alle Fragen oder Unklarheiten kannst du während des Kurses stellen – dafür zahlst du schließlich.<<
Das war seine Theorie vom Leben. Seiner Ansicht nach, hatte Benjamin Pflichten, denen er nachkommen musste. Das Studium hatte er sich selbst ausgesucht – deswegen wollte Jeffrey seinen Sohn nicht etwa bevorzugen. Liz Weatherby sah das etwas anders und half zu ihrem Sohn und das in jeder erdenklichen Situation. Robert hingegen gehorchte seinem Vater, tat wonach er auch immer verlangte, respektierte den alten Weatherby und sah ihn als sein persönliches Vorbild an, in dessen Fußstapfen er treten wollte. Nicht etwa irgendein Superheld oder eine andere Berühmtheit diente ihm als Vorbild – nein, es war immer nur sein eigener Vater gewesen.
Wie bereits erwähnt, wurde Ben als Nestküken stets von Liz Weatherby verhätschelt. Nun ja, um zurück zu Rebecca zu kommen. Robert war sich absolut sicher, dass er diese junge Frau irgendwo schon einmal gesehen hatte. Ihr Gesicht blieb ihm im Kopf und das bereits nachdem er sie das erste Mal gesehen hatte. Allein über diese Tatsache war Robert etwas erstaunt. Er hatte alles andere als ein fotografisches Gedächtnis. Doch bei dieser jungen Frau war es anders gewesen. Er wollte der ganzen Sache auf den Grund gehen und entschied sich dafür seinen Bruder öfters als sonst abzuholen. Robert wusste, dass Ben sich immer ein wenig verspäten würde. Doch die Worte von Robert hatten Wirkung gezeigt und an dem Nachmittag, als er Rebecca wieder sehen wollte, kam Ben früher als sonst. Robert wollte nicht sofort losfahren und das trug wiederum zu Bens Verwirrung bei. Zweifelnd sah er Robert an. Die beiden saßen stillschweigend im Auto. Der Ältere der Brüder umfasste das Lenkrad mit einer Hand und sah erwartungsvoll durch die Frontscheibe hindurch.
>>Hast du vergessen wie man fährt?<<
Robert griff nach hinten, holte eine Tüte vom Rücksitz hervor.
>>Ich hab dir einen Burger mitgebracht. Iss ihn bevor wir in die Werkstatt fahren. Heute gibt's einiges an Arbeit.<<
Zweifelnd musterte Ben seinen Bruder. Doch er sah nur aus dem Fenster.
>>Robert? Wartest du noch auf jemanden?<<
Für einen kurzen Moment unterbrach Robert seinen aufmerksamen Blick, der auf dem Gehsteig lag und hakte schroff nach.
>>Was?<<
>>Ich kann auch während der Fahrt essen.<<
Genervt wandte Robert sein Augenpaar Ben zu.
>>Denkst du ich hab Lust, dass du mir die Sitzbezüge einsaust?<<
Tief atmete Robert ein und sah dann genervt aus dem Fenster. Genau in diesem Augenblick kam Rebecca vorbei und erneut trafen sich die beiden Blicke. Noch während die beiden sich ansahen, startete Robert den Motor und fuhr langsam los.
Auf diese Aktion war Ben nicht vorbereitet und ließ durch den Ruck beim Abfahren einige Beilagen des Burgers auf den Boden fallen.
>>Verdammt pass auf!<<
Schrie Robert seinem Bruder wütend nach. Der Coupé war sein Heiligtum und Ben wusste das zu respektieren. Umso mehr war er über die Tatsache verwundert, hier überhaupt so etwas wie einen Burger anrühren zu dürfen. Robert war sich über das was in ihm vorging nicht im Klaren. Vielleicht war es eine Art der Schwärmerei, die Robert da für Rebecca empfand, doch selbst das konnte und wollte er sich nicht eingestehen. Er war sich sicher, dass er nur wissen wollte wer diese junge Frau war. Der Name „Rebecca Law", sagte ihm auf jeden Fall nichts.
Um die Geschichte weiter vorantreiben zu können, muss ein wenig Zeit übersprungen werden. Eines Abends – einige Tage später, als Liz Weatherby alte Fotoalben durchblätterte, saß Robert mit Jeff am Tisch. Sie tranken ein Bier und sprachen über den Tag in der Werkstatt. Robert mochte diese Gespräche mit seinem Dad. Sie sprachen über Probleme an Wägen und wie sie diese bewältigt hatten – oder aber auch nur über die fantastische Arbeit, die sie verrichtet hatten. Die Werkstatt war für Robert und seinen Vater das Größte. Auch wenn Elizabeth nicht direkt in das Gespräch involviert war, so war sie doch mit anwesend und genau das war Roberts Interpretation für das Wort Familie. Liz blätterte gerade über einige Seiten, wo sich viele Kinderfotos von Robert und Ben befanden. Roberts Blick landete immer wieder auf diesen Fotos. Er mochte es, sie sich anzusehen. Eines der Bilder weckte die Aufmerksamkeit des Jungen.
>>Was ist das für ein Foto Mum?<<
Wollte er wissen, nachdem er die Flasche Bier abgestellt hatte, sich erhob und einmal um den Tisch ging.
>>Welches denn?<<
Dann deutete Robert auf ein bestimmtes Foto.
Auf dem Bild war Robert ein kleiner Junge – 4 Jahre alt.
Neben ihm war noch ein kleines Mädchen auf dem Foto, das ungefähr im gleichen Alter wie Robert war. Sie hatte langes, seidig blondes Haar und grünblaue Augen.
>>Wer ist dieses Mädchen Mum?<<
Doch Mrs. Weatherby konnte ihrem Sohn keine genaue Antwort darauf geben.
>>Du hast mit ihr früher immer auf dem Spielplatz gespielt. Ihren Namen kenne ich leider nicht. Ihr wart oft zusammen.<<
Schließlich ging Robert wieder zurück auf seinen Platz, kippte sich einen Schluck vom Bier hinunter und sprach weiter.
>>Kann ich mir das Foto ausleihen?<<
Er erntete nur einen stutzigen Blick. Sowohl von Liz als auch von Jeffrey. Eine große Vermutung wuchs in Robert heran – sogar so groß, dass er es selbst nicht für möglich hielt. Vielleicht konnte er so das Geheimnis lüften, dass sich bezüglich der jungen Frau in ihm aufgetan hatte. Wenn nicht, dann wusste er, dass seine Aktion im schlimmsten Fall als schlechte Anmache abgestempelt worden wäre. Was hatte er schon großartig zu verlieren? Es vergingen einige Tage und dieses Mal musste Robert Ben nicht abholen. Trotzdem parkte er an der Straße der Bradley University. Als Becca wie gewohnt den Weg entlang kam und das Auto bereits hinter sich gelassen hatte, stieg Robert aus dem Wagen aus.
>>Entschuldige.<<
Rief er ihr hinterher. Becca wandte sich schließlich um, sah den jungen Mann etwas fragend an.
>>Ja?<<
Robert näherte sich ihr einige Schritte, bevor er weiter sprach.
>>Hast du eben einen kleinen Moment Zeit, ich hab da nur eine kleine Frage an dich.<<
Zaghaft, mit Zweifeln nickte Rebecca.
>>Eigentlich nicht.<<
Ihr Blick wurde etwas stutziger und sie schüttelte prompt den Kopf. Robert war etwas irritiert.
>>Nur einen Moment.<<
Bat er erneut höflich, ehe er in die Innenseite der Tasche langte und dort das Foto herauszog.
Rebeccas Blick lag nun interessiert auf dem Bild.
>>Eine Minute.<<
Anerkennend nickte Robert und reichte ihr dann das Foto.
>>Kennst du eine Person auf diesem Foto.<<
Nach einem langwierigen und äußerst ruhigen Moment, fiel ihr Augenpaar wieder auf Robert.
>>Woher hast du das Foto?<<
Robert schluckte etwas, konnte sich die Antwort bereits ausmalen.
>>Nun ja, es ist meines.<<
Kam die Erklärung ziemlich notdürftig aus ihm heraus und lächelte ihr freundlich entgegen. Als Resultat runzelte Rebecca dann die Stirn etwas.
>>Das bin ich auf dem Foto.<<
Sprach sie dann ziemlich überzeugt, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, dass Roberts Worte nur eine Lüge waren.
>>Und ich.<<
Kam die ernüchternde Antwort schließlich aus ihm heraus.
>>Wie mir scheint haben wir beide uns vor einigen Jahren kennengelernt.<<
Unweigerlich musste Robert ihr dann ein breites Lächeln präsentieren. Seine Intuition hatte ihn also doch nicht betrogen. Sein Lächeln war ansteckend und ergriff Becca ebenfalls. Man kann es einfach als einen recht schönen Zufall interpretieren, dass so etwas passieren konnte. Irgendwo in Roberts Erinnerungen war das Bild der jungen Rebecca verankert, das er mit ihrem gegenwärtigen Erscheinungsbild verknüpfen konnte.

Over The Sunset - RevelationWhere stories live. Discover now