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Als ich am nächsten Tag in der Küche stand, fiel die tägliche Post durch den Briefkastenschlitz in unserer Tür. Auf unserer Fußmatte lag schon ein ganzer Stapel von Werbungen und Zeitungen, jedesmal wenn ich das Haus verließ stieg ich drüber. Doch heute war es wieder die Zeit im Monat, wenn ein paar Briefe mit dazu geflattert kamen. Meine Mutter hatte sich die letzten sechs Monate darum gekümmert.

Jetzt lag sie. Und dort lagen auch die monatlichen Briefe. Ich hatte sie mir noch nie angesehen, das durfte ich nicht. "Das ist Erwachsenensache." hatte mein Vater immer gesagt. Doch meine Mutter würde nicht auf einmal auf ihrem Zimmer kommen und die Briefe aufheben. Eine ganze Weile stand ich in unserer Wohnküche und starrte die drei Briefe an die zwischen den, angehäuften Werbeblättern lagen.

Irgendwann setzte ich mich in Bewegung und griff nach ihnen. Meine Augen überflogen die Absender. Die ersten zwei waren die Wasser- und Stromrechnungen. Der dritte war ein Brief unserer Bank. Den ersten Brief öffnend lief ich zurück in den Küchenbereich und lehnte mich gegen die Arbeitsfläche. Ich hatte noch eine Stunde bis ich in der Schule sein musste, also konnte ich das jetzt erledigen. Unsere Stromrechnung betrug 90 Euro, das konnte ich von meinem Geld bezahlen, genau wie die Wasserrechnung die 50 Euro war. 

Doch der dritte Brief war etwas ganz anderes. Es war eine Mahnung, dass wir unseren Kredit nicht abgezahlt haben. In dem Schreiben stand, dass letztes Jahr vereinbart war und das Geld immer noch nicht da war. Ich las es mir immer wieder durch. Der Kredit betrug 15 Tausend Euro. 15 Tausend. Mein Vater hatte dem Staat mehr verheimlicht als das, deshalb hatte er ja 10 Jahre bekommen. Warum hat der diesen Kredit nicht bezahlt?

In dem Brief stand, dass nach der dritten Mahnung, das Haus enteignet wird. Wie soll ich das machen? Wo bekomme ich 15 Tausend Euro her? Ich verdiene 300 im Monat und das geht für Strom, Wasser und Essen drauf. Meine Kehle schnürte sich zu, da ich wieder nicht wusste was ich tun sollte. Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich wusste nicht recht, warum ich weinte. Ich schätze, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Situation aussichtslos war. Doch es gab immer eine Lösung. Auch für dieses Problem. 

Und in diesem Moment beschloss ich heute nach der Schule, das erste Mal zu meinem Vater ins Gefängnis zu fahren. Es war Mittwoch, es war Besuchszeit. Das wusste ich, weil mein Vater es mir jedesmal erzählte, wenn er anrief. Jetzt musste ich hin. Er wusste bestimmt was ich tun konnte. Und ich wollte wissen, warum verdammt er den Kredit nicht mit deinem verlogenen Geld bezahlt hat. Was er überhaupt mit dem vielen Geld gemacht hat. 

Wütend und verwirrt zog ich mich an, ohne darauf zu achten was. Die Schule verlief genauso wie immer. Ich saß auf den unbequemen Stühlen, ich hörte dem Gerde der Lehrer zu. Ich ignorierte die verachteten Blicke und Kommentare der anderen Schüler. Ich tat genau das, was ich immer tat. Mit einem riesigen gravierenden Unterschied. Ich stieg nach der Schule in den falschen Bus. 

Mit flachen Atem und vernebeltem Kopf zeigte ich dem Fahrer meine Abokarte und ließ mich hinten im Bus nieder. Das Gefängnis in dem mein Vater war, war außerhalb der Stadt und da ich am Stadtrand wohnte keine zwei Stunden entfernt. Ich war mit drei anderen alleine im Bus, als wir vor der Bushaltestelle hielten. Ich stieg aus, obwohl ich mich innerlich sträubte. Ich meldete mich an der Anmeldung, obwohl ich nicht in den Raum gehen wollte. Ich setzte mich vor die Glasscheibe, auch wenn ich furchtbare Angst davor hatte meinem Vater wieder in die Augen zu sehen.

Und dann ertönte der laute Ton der Sicherheitstüren und die Plätze hinter den Scheiben füllten sich mit orange gekleideten Männern. Als sich der Mann auf den ich wartete vor mir niederließ, war es kurz als würde ich einem Fremden in die Augen schauen. Doch die karamellfarbenden Augen in die ich starrte, waren die gleichen vertrauten Augen in die ich gesehen hatte, als ich Fahrradfahren gelernt hatte. Und als er mir beibrachte wie man blufft. Wie oft hatte ich in diese Augen gesehen und Sicherheit verspürt, als ich klein war.

Jetzt spürte ich nur Enttäuschung und Unbehagen. "Als sie mir sagten, dass ich Besuch habe konnte ich es fast nicht glauben." sagte er und lächelte mich an. Seine Lachfältchen an den Augen kamen zum Vorschein und er lehnte sich vor. "Ja. Tut mir leid, dass ich nicht eher hier war." sagte ich, auch wenn ich nicht wusste, ob ich es so meinte. "Ach, Maus ich verstehe das. Ich weiß nicht ob ich mich besucht hätte. Aber jetzt bist du hier. Wie geht es dir?" ich sah ihn an. "Den Umständen entsprechend." antwortete ich, weil ich nicht wusste was ich sagen sollte. 

"Es tut mir wirklich leid, ich will das du das weißt." "Danke." Schweigen. "Wie viel Geld hast du eigentlich... hinterzogen." fragte ich ihn. Er sah mir in die Augen. Er zögerte. Ich glaube diese Frage, hatte er nicht erwartet. "3 Millionen." sagte er dann und sah auf den Tisch vor ihm.

Ein unsichtbares, aber tonnenschweres Gewicht zog meine Kinnlade herunter und ließ mich erstarren. "Was hast du mit dem Geld gemacht?" fragte ich weiter, als die Starre sich löste. "Dies und das. Der Urlaub, das Auto." ich schnaubte. "Das war keine 3 Millionen wert." sprach ich das offensichtliche aus. 

"Investiert hauptsächlich. In unsere Zukunft." sagte er dann. Meine rechte Augenbraue schoss in die Höhe, etwas das ich mir eigentlich versucht hatte abzugewöhnen. "Weißt du, wenn du in unsere Zukunft investiert hast. Warum hast du nicht, damit angefangen den Kredit abzubezahlen." ich holte die Mahnung aus meinem Rucksack und schlug das Blatt auf den Tisch. 

Er erstarrte. Dann sah er das Papier an und wieder mich. "Das sollte... aber. Das habe ich ganz vergessen." stammelte er. "Woher soll ich 15 Tausend Euro herbekommen Papa? Wir verlieren das Haus, wenn wir das nicht bald bezahlen." warf ich ihm vor. "Hat deine Mutter nichts zurückgelegt? Sie geht doch auch arbeiten, davon könnt ihr das bezahlen." sagte er und ich hatte das Bedürfnis ihn auszulachen. Aber er wusste ja nichts, von der derzeitigen Situation.

"Mama arbeitet nicht mehr." sagte ich. Seine Mimik erschlaffte. "Seit wann, wieso?" "Seit etwa einem Monat. Sie will nicht." erklärte ich. Einzelheiten gab ich nicht preis. "Aber wie bezahlt ihr Rechnungen? Essen?" seine übliche Sorgenfalte bildete sich, zwischen seinen Augenbrauen. "Ich gehe arbeiten. Aber das hier kann ich nicht bezahlen." Schweigen.

"Ihr könnt euch staatliche Hilfe holen. Du musst mit deiner Mutter zur Behörde gehen. Dann beantragt ihr staatlichen Unterhalt. Deine Mutter ist nicht arbeitsfähig, so etwas musst du sagen. Oder sie." mein Kopf ratterte. Warum habe ich nicht daran gedacht? Das war so eine simple Lösung. Doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Niemals bekomme ich Mama zur Behörde. "Kann ich da auch ohne Mama hin?" fragte ich ihn.

"Nein, das kann man nur beantragen, wenn man volljährig ist. Jedenfalls soweit ich weiß." seufzend ließ ich mich den Stuhl zurückfallen. "Das liegt doch auch im Interesse deiner Mutter. Hat sie dich eigentlich deswegen hergeschickt?" fragte er mich. "Ja." log ich. 

"Was macht sie eigentlich, wenn sie nicht arbeitet?" er schien wirklich interessiert zu sein. "Dies und das." wich ich der Frage aus, wie er meiner Frage ausgewichen war, was das Geld betraf. "Wir schaffen das. Ich rufe heute mal dort an und erkundige mich ja?" versuchte er mich zu ermutigen. Du Heuchler, dein Problem ist es ja nicht mehr. Hätte ich ihm am liebsten gesagt. 

Doch ich nickte nur. Und so verließ ich das graue Gebäude ohne einen wirklichen Plan, außer zu versuchen meine Mutter zu bewegen. Also genau das, was ich bisher getan hatte. 

ITS ALL IN YOUR HEADWhere stories live. Discover now