15. Kapitel

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Etwa zwei Stunden später befanden wir uns in Micks Wagen beim Zirkus und kratzten Tomaten aus. Dabei entfernten wir die Kerne und füllten den roten Saft in kleine Glässchen.

"Ich weiß immer noch nicht genau, warum wir das machen. Machen wir Marmelade?"

"Wieso machen wir Marmelade?", fragte Constanze, die gerade durch die Tür gekommen war. "Die Hygiene hier lässt zu wünschen übrig."

Mick verdrehte die Augen und sah zu uns. In seinem Blick lag Ungeduld, als hätten wir besonders dumme Fragen gestellt.
Ich zuckte mit den Schultern.

"Hey, ist okay wenn du Tomatenmarmelade magst. Es ist nur... zwei Stunden lang hast du uns über den Markt gezerrt, Tomaten und Kürbis und Seil eingekauft, und uns immer noch nicht gesagt was du willst. Ich dachte wir gehen heute zum Tower. Ich habe meine Angestellte darum gebeten, zum Tower zu gehen und deshalb ist sie fortgelaufen!", sagte Constanze.

Ich blickte sie verdutzt an. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mary wegen so etwas gegangen war. Constanze erwiderte meinen Blick mit einer solchen Ausdruckslosigkeit, dass ich wütend wurde. Warum weihte sie mich nicht ein?!
Mick hatte mittlerweile seine Tafel gezückt und begann eine Antwort zu kritzeln.

Wer von uns ist der Zauberer? Ich. Also haltet euch bitte an meinen Plan, auch wenn er euch unsinnig erscheint. Ich bin kein Amateur, ich verstehe die Sachen, die ich mache. Das Klima hier gefällt mir momentan überhaupt nicht und selbst ein Blinder erkennt, dass zwischen euch Spannung herrscht. Also geht vor die Tür und macht gemeinsam dem Streit Luft, ansonsten schicke ich euch nach Hause. Schließlich ändert eure Stimmung nichts daran, wie unser Plan schlussendlich ausgeht. Also bemüht euch bitte, bitte um einen freundlichen Umgangston!

Ich starrte ihn an. Scham stieg in mir auf und mein Gesicht brannte.

"Entschuldigung", murmelte ich und verließ den Wagen.

Keine Sekunde später öffnete sich die Tür hinter mir und Constanze gesellte sich zu mir.
Eine Weile schwiegen wir, dann sagte Constanze: "Es tut mit leid. Marys Fortgehen hat mich aufgewühlt und heute ist sowieso ein... verdammter Scheißtag!" Ihre Stimme war lauter geworden und sie umklammerte das Geländers des Zirkuswagens so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Ich starrte sie an. "Was ist denn los?", fragte ich mitfühlend.

Sie biss sich auf die Unterlippe und zu meinem Erstaunen traten ihr Tränen in die Augen, die sie wütend wegblinzelte.
"Es ist..."

Auf einmal verstand ich. Ruby hatte es erwähnt, nur nebenbei, aber...
"Dein Bruder?"

Sie fragte nicht, woher ich die Information hatte, sondern nickte nur. Einer Eingebung folgend legte ich meine Hand auf ihre Schulter, in der Erwartung dass sie sie wegschubsen würde, doch sie tat es nicht.

Constanze schluckte. "Mary hat mich verlassen weil... sie das Ganze nicht mehr aushält. Sie will nicht in meine kriminellen Angelegenheiten hineingezogen werden und das kann ich auch verstehen!"

Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte es bereits vermutet. Mary war wegen mir ausgezogen, weil ich wieder den Ärger ins Haus Sinclaire gebracht hatte.

"Willst du über deinen Bruder sprechen? Manchmal hilft das."

Sie schniefte. "Ja... ich, ich sollte es versuchen, oder nicht? Es ist zwei Jahre her seit uns die Nachricht ereilte, dass Graham an der Front gestorben sei. Mit uns meine ich meine Tante Eliza, meinen jüngeren Bruder Hollin und mich. Meine Eltern waren bereits drei Jahre zuvor in einem Zugunglück ums Leben gekommen, wir hatten nur noch einander. Mary... zerbrach an dem Schmerz. Sie war die Verlobte meines Bruders und hatte ihn zwei Tage später heiraten wollen. Alles war bereits arrangiert gewesen, doch Graham hatte zu einem letzten Einsatz gewollt."

Ein Schluchzer durchfuhr sie und Tränen rannen ihr über die Wangen. Ich legte einen Arm um sie und strich ihr über die Schulter, bis sie sich beruhigt hatte und weitersprach.

"Ich bin sofort zu Hollin ins Internat gefahren und habe ihn gebeten, nach Hause zurückzukommen. Die Angst um ihn stieg ins Unermessliche- ich wollte nich noch einen geliebten Menschen verlieren. Doch er lehnte ab und ich kehrte zu meiner Tante zurück, die mich unbedingt verheiraten wollte, am besten mit einem reichen Gutsherren irgendwo im Nirgendwo. Ich lief weg und Mary folgte mir. Eine freundliche Dame gab uns das nötige Geld, um eine Wohnung zu mieten. Diese Dame hieß Lady Godwin. Sie brachte mir das bei, was verboten worden war: stehlen, betrügen, erpressen. Sie sagte, ich hätte Potenzial und würde es irgendwann weit bringen... und nun stehe ich hier und habe den einzigen Menschen vergrault, der immer zu mir gestanden hat: meine Mary."

"Aber nicht für immer", murmelte ich. "Wir kriegen Mary zurück. Außerdem ist die bestimmt genauso aufgewühlt wie du... gib ihr nur genügend Zeit."

"Mhm", seufzte sie, schniefte und fragte: "Gibt es bei dir etwas tragisches zu berichten?"

Ich lächelte leicht, obwohl die Situation alles andere als lustig war.

"Ich bin, wie du sicherlich bemerkt hast, ein Waise", sagte ich und spielte an einem herausgezogenen Faden an meinem Mantel. "Das war ich aber nicht immer. Ich hatte Eltern, die ich auch kannte. Meine Mutter starb als ich klein war, daraufhin brachte mich mein Vater ins Waisenhaus."

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen.

"Komm Kleiner, wir machen einen Ausflug."

"Ich hol dich in einer Stunde ab, ja?"

"Tut mir leid, Laurent. Wir passen auf dich auf."

"Wo ist er?"

"Lasst mich in Ruhe!"

"Ich bring dich in dein Zimmer."

"Jamie, lass ihn in Ruhe!"

"Michael, dein Zimmergenosse. "

"Hey. Ich bin Michael. Michael Corden."

"Laurent. Laurent Morton."

Schnell konzentrierte ich mich wieder auf den Faden an meinem Mantel.

"Das... tut mir leid", flüsterte Constanze. Hinter uns öffnete sich die Tür und Mick kam heraus. Er wechselte mit Constanze ein paar Worte, wobei nur sie sprach, aber ich bekam das ganze nicht richtig mit. Mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt sah ich ins Leere und versuchte, meine Gefühle in einem Meer aus Gleichgültigkeit zu ertränken.

Zitternd streiche ich den Dreck von den Mauersteinen. Ein Husten verlässt meine Kehle und ich krümme mich zusammen. Ich bin gefangen in meinem Kopf. Meine Gedanken verweben sich zu Alpträumen, die mich am Tage heimsuchen und ich zittere. Meine Hände streichen über den Boden und umklammern die Strohhalme, die den kalten Steinboden bedecken. Wie kam ich hierher? Ich zerbreche die Zweige in meiner Hand.
"Verrat, Verrat!", schreien mich die Stimmen in meinem Kopf an. Ich presse meine Hände auf meine Ohren und kneife die Augen zu. Sie haben ja recht.
"Arthur!"
"Charles"
"Es war Elizabeth!"
Ich keuche. Ja, Elizabeth hat mich schlussendlich verraten.
"Vincent. Du warst alleine unterwegs."
Auch das ist wahr. Woher kenne ich Elizabeth? Eine Gestalt aus einem Buch, ja. Ein Krimi, der zuhause liegt.
Ich beginne zu schreien und schlage auf den Stein ein. Meine Fingernägel schneiden mein eigenes Fleisch, alte Wunden reißen auf und meine Hände sind blutverschmiert. Die Zellentür geht auf. Ein anderer Insasse verbindet mir die Hände. Ich starre in sein altes Gesicht und möchte mich bedanken. Aber wofür soll ich mich bedanken?

Laurent der MeisterdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt