24. Kapitel

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Uns blieb keine Zeit mehr. Vincent riss die Tür des Leichenwagens auf und wir drängten uns auf den Kutschbock. Mit einem Knallen der Peitsche setzten sich die Pferde in Bewegung und wir sausten los. Hufe klapperten über den Asphalt und der Wagen wankte bedrohlich, als wir um eine Ecke bogen.

"Da!", schrie Constanze. Ihr Haar flatterte im Wind und Vincents Hut hatte seinen Herrn bereits verlassen. Vor uns erhob sich die schwarze Gestalt des Wagens, in dem Mick gefangen war. Erneut knallte die Peitsche, als Vincent, der die Zügel hielt, einen Zahn zu legte. Auf seinem Gesicht war eiserne Entschlossenheit zu sehen. 

Ich umklammerte meinen Sitz in dem Bedürfnis, nicht den Halt zu verlieren und bei dieser Geschwindigkeit aus dem Wagen zu fallen, doch dieser knarrte bedrohlich und auch Constanze war ganz grün um die Nase. Der Wagen vor uns bog um eine Ecke und verschwand.

"Da rein!", brüllte ich und deutete nach rechts, Vincent riss an den Zügeln doch kurz vor der Biegung bäumten sich die Pferde auf einmal auf und wir kamen zum Stehen. "Was ist?!"

"Es ist viel zu eng!", rief Vincent. Er hatte recht. Unser Wagen würde niemals durch die schmale Straße passen, ohne an den Gebäuden entlang zu schrammen. "Constanze, kennst du einen anderen Weg?"

"Ja!", sagte Constanze grimmig, rutschte vom Kutschbock und löste eines der aufgeregten Pferde vom Wagen. "Los, jeder nimmt sich ein Pferd!"

Ich folgte ihr rasch, Vincent kam mir nach und steuerte auf das Schwarze zu, als mir plötzlich etwas einfiel.

"Ich kann gar nicht reiten!"

Schon hatte mich Vincent auf das Pferd gehoben und war hinter mir aufgestiegen. Er presste seine Fersen in die Flankend des Rappens und wir galoppierten los, wobei wir zwei Pferde zurückließen, die sofort ein Fensterbrett mit Blumen in Angriff nahmen. 

Schnee stob auf, als wir die Innenstadt verließen und auf eine Landstraße einbogen. Felder zogen an uns vorbei, der Wagen vor uns schien uns nicht zu bemerken. Der Himmel hatte sich verdunkelt und Regen fing an zu fallen. Eiskaltes Wasser peitschte mir ins Gesicht, als wir die vereiste Landstraße entlang ritten. Irgendwann zeichnete sich vor uns der Umriss eines großen Anwesens ab, das fast komplett von einer weißen Schneedecke verdeckt wurde. Der Wagen, der sich bedrohlich schwarz von dem unschuldigen Weiß abhob, kam vor dem Anwesen zu stehen und Mick wurde in das riesige Haus hineingezerrt. Ich sah, wie er sich wehrte, aber sich nicht freikämpfen konnte. Wir hielten hinter einer hohen Hecke und stiegen ab, dann öffneten wir das gusseiserne Tor und rannten auf den Platz, in dessen Mitte ein gefrorener Springbrunnen thronte. Ohne jegliches Schleichmanöver stiegen wir die Treppe hoch zur Tür und stießen sie auf, kalter Wind rauschte in die Halle und riss die alten purpurnen Vorhänge herunter. Mick wurde grade unter großen Protesten die Treppe hoch geschleift, der Mann hatte ihn in einem eisernen Griff um die Hand gefangen und Nevermore, der ihnen anscheinend ebenfalls gefolgt war, pickte wie verrückt auf ihn ein.

"Halt!", schrie ich und Constanze, Vincent und ich stürzten die Treppe hoch. Der Mann sah sich noch nicht einmal um, was mich in anderen Momenten eventuell irritiert hätte, und steuerte auf eine Tür zu, die er auftrat und dann mit Mick darin verschwand, wobei er auch Nevermore aussperrte. Ich hämmerte gegen die Tür, die hinter ihm zugefallen war, hörte Stimmen aus dem Raum dringen und sah mich hilfesuchend nach Vincent um. Dieser ließ grade seinen Blick durch die heruntergekommene Eingangshalle gleiten, dann riss er mit einem Ruck eine morsche Diele aus der Treppe. Er hob sie unter Anstrengungen hoch und kam dann auf mich zu, ich untersuchte kurz die Tür, die ebenfalls recht baufällig war und gemeinsam rammten wir den Holzbalken gegen das alte Holz. Es ächzte und wir stießen erneut mit unserem Rammbock dagegen, die Tür flog auf und Staub wirbelte durch die Luft. Wir stürmten in den Raum, ich voran, hinter mir Constanze und Vincent und vor uns- 

stand Lady Godwin zwischen zwei stämmigen Männern, von denen einer Mick auf die Knie gezwungen hatte, seinen Kopf brutal an den Haaren nach oben presste und ihm eine Klinge an die Kehle hielt. Blut sickerte aus Micks Halt und sammelte sich auf der glänzenden Schneide des Messers. Constanze neben mir keuchte auf und hielt sich beide Hände auf den Mund und auch Vincent zuckte zurück.

"Wenn ihr irgendetwas tut, stirbt euer Freund!", rief Godwin von dem anderen Ende der Halle her. 

Mit zitternden Beinen trat ich vor. "Was willst du?! Was soll das? Wir haben dich bezahlt!"

Mick suchte verzweifelt meinen Blick, sein Gesicht war tränenverschmiert und sein Kiefer verkrampfte sich. 

Ich formte mit meinen Lippen Wir holen dich hier raus und er nickte leicht.

"Ja, ich habe euer Geld erhalten!", fauchte Godwin. Ihre Haarpracht wackelte bedenklich und einzelne Strähnen fielen ihr auf den grauen Fellmantel. 

Constanze machte einen Schritt nach vorne, ihr Gesicht kalkweiß. "Wollt Ihr noch mehr Geld? Ich habe..."

"Nein! Ihr habt etwas, was mir gehört, gestohlen und ich will es wieder! Ansonsten stirbt euer Freund!"

Constanze schrie kurz spitz auf, als Mick sich zu befreien versuchte und sich die Klinge noch tiefer in seinen Hals drückte. Ich schloss kurz die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich bemerkte, wie Constanze zitternd in ihre Tasche griff und etwas herauszog. In ihrer Hand blitzte Grahams Taschenuhr, die ich gestohlen hatte. Die Kette rasselte, als Constanze sie hochhielt, um sie Godwin zu zeigen. Deren gieriger Blick war Antwort genug. 

"Ja. Gebt sie mir!"

"Erst Mick!", rief Vincent.

"Pah! Wer sagt, dass ihr mir dann die Uhr gebt! Ihr seid doch alle Schurken!"

"Dasselbe könnten wir von Euch sagen!", höhnte Constanze und ich brüllte: "Genug! Jetzt gib ihr diese verdammte Uhr!" Vincent zuckte zusammen.

Mein Blick wanderte wieder zu Mick, der beide Hände um den Arm des Mannes gelegt hatte und mit hochrotem Kopf versuchte, sich zu lösen. Das Blut lief seinen Hals hinab und mir wurde schlecht. Für einen Moment hoffte ich, dass das nur wieder irgendein getrickster Kopf auf seinem Hals war und nicht wirklich eine zweite Hinrichtung vielleicht bevor stand. Nein, keine verdammte Hinrichtung, ich hatte genug von Hinrichtungen. Wir würden Mick retten. "Jetzt mach schon!", zischte ich. Constanze zögerte, beugte sich hinab und ließ ihre Taschenuhr hinüber zu Godwin schlittern, wobei sie deren Blickkontakt hielt. Godwin beugte sich hinab, hob die Uhr auf und untersuchte sie. Dann steckte sie sie ein.

"Jetzt Mick!", rief ich und meine Stimme zitterte. Ich schluckte, meinen Blick fest auf Mick fixiert, der sich immer noch verzweifelt versuchte zu lösen. Godwin gab dem Mann, der unseren Freund festhielt, ein Zeichen und dieser ließ Mick los. Statt aber zu uns zu rennen, stand Mick langsam auf und fasste sich an den Hals. 

Hilfesuchend sah er zu Godwin, diese zog ein Taschentuch aus ihrem Mantel und reichte es ihm. Behutsam tupfte sich Mick das Blut vom Hals und presste dann den Stoff auf seine Wunde, um die Blutung zu stoppen. Ich runzelte die Stirn. 

"Mick?", flüsterte Constanze und dieser sah wie überrascht zu uns. Dann breitete sich so etwas wie Bedauern auf seinem Gesicht aus und er senkte den Kopf. "Kommst du?"

Eine kalte Gewissheit ließ mich erstarren und ich schüttelte den Kopf in Unglauben. 

"Er wird nicht kommen, nicht wahr, Mick?", fragte Vincent und sein Unterkiefer mahlte. 

Tränen sammelten sich in Micks Augen und tropften auf die Dielen unter ihm, als er den Kopf schüttelte und sich umdrehte. Dann verließen er und Godwin durch eine Hintertür den Saal.

"Nein!", schrie ich und stürzte auf die beiden zu, doch Godwins Leibwächter drängten mich zurück und der eine hob sein Messer, auf dem Micks Blut zitterte. Ich spürte Vincents Hände um meinen Brustkorb, als er mich sanft zurückzog und aus dem Raum bugsierte. Wie in Trance folgte ich den anderen den Weg zurück zur Eingangshalle, wo Vincent die Tür aufstieß und mir half, auf das Pferd zu steigen, auf dem wir zurück nach London reiten würden.

Er hat uns verraten.

Das war alles, an das ich dachte, und an das würde ich auch noch am späten Abend alleine am Esstisch in Constanzes Wohnung denken. 

Laurent der MeisterdiebWo Geschichten leben. Entdecke jetzt