Kapitel 6 - Das Wesentliche ist unsichtbar

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„Wir lesen heute ein Werk von Rilke", Klack, Klack, Klack, Klack, „bitte schlagt eure Bücher auf Seite 59 auf." Ein Schatten schob sich vor die Sonne, die bis eben noch Emmas Gesicht gewärmt hatte, diese runzelte die Stirn und vermisste sofort das warme Gefühl auf ihrer Haut. Emma erzitterte aufgrund der Kälte, die auch in der Stimme ihrer Lehrerin lauerte und schlug eilig ihr Buch auf. „Emma", ihr Name rollte melodisch von der Zunge ihrer Lehrerin und die Kälte wurde von einer wohligen Wärme abgelöst die pulsierend durch ihre Adern kroch, „wärst du so nett uns das Gedicht vorzutragen?" „Aber natürlich", Emma strich ihr blondes Haar hinter ihr Ohr und spürte die Augen ihrer Lehrerin auf sich ruhen, nervös biss sie sich auf die Lippe und scannte die Passage vor sich. Sie liebte dieses Gedicht und bemühte sich die Bewunderung für das Werk durch ihr Vortragen zum Ausdruck zu bringen:

„Will Dir den Frühling zeigen
Der hundert Wunder hat.
Der Frühling ist waldeigen
Und kommt nicht in die Stadt."

Emmas Augen schossen zum Gesicht ihrer Lehrerin hinauf, in Erwartung auf die nahende Reaktion wenn sie die nächste Passage las, aber nichts bereitete sie auf den Anblick vor, der sich ihr gerade in diesem Moment bot. Miss Mills saß auf ihrem Pult, mit gekreuzten Beinen, einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht und geschlossenen Augen. Ihr Rock schob sich dabei an ihren Oberschenkeln nach oben und gab Sicht auf ihre zarte Haut frei. Auf Emmas Gesicht schlich sich ebenfalls ein Lächeln, irritiert darüber schüttelte sie ihren Kopf und fuhr eilig mit fester Stimme fort, da ihre Lehrerin die Augen öffnete und ihren Kopf in Emmas Richtung drehte:

„Nur die weit aus den kalten
Gassen zu Zweien gehn
Und sich bei den Händen halten –
Dürfen ihn einmal sehn

-Will dir den Frühling zeigen von Rainer Maria Rilke"

Stille waberte in der Luft und als Emma erneut aufsah, stand Miss Mills wieder vor ihr. Emma war so in der Welt des Gedichts vertieft, dass sie ihre Ankunft nicht bemerkt hatte. Auf dem Gesicht ihrer Lehrerin lag noch immer dieses mysteriöse Grinsen, eines das ihre Augen funkeln ließ. Sie ging an ihr vorbei, strich mit ihrer Hand kurz über Emmas Arm und entfernte sich dann von ihr: „Danke Emma..." Belle blinzelte aufgeregt und knuffte Emma in die Seite: „Wie ist sie denn heute drauf?" Emma zuckte nur mit den Schultern, da ihre Ohren noch immer rauschten und sie kaum etwas anderes wahrnahm als die wackelnden Hüften ihrer Lehrerin und die Berührung, die noch immer ihren Geist streifte. „Reiß dich zusammen, Swan. Was ist nur los mit dir?", Emma schimpfte mit sich selbst, ihr machte es Angst nicht zu wissen was los war. Wieso sie sich so komisch verhielt und ihre Lehrerin intensiver denn je musterte. „Emma?", Belle lehnte sich zu ihrer Sitznachbarin herüber und erwartete eine Antwort. „Ich habe keine Ahnung, Belle", murmelte Emma so leise es ging, da Miss Mills langsam wieder nach vorne ging. „Aber das war doch nicht normal? Sie ist doch sonst so...kalt?", Belle war nicht die Einzige, die sich über das Verhalten ihrer sonst so emotionslosen Lehrerin wunderte, aber ihre Mitschüler wussten es besser und genossen diesen Moment lieber als ihn in Frage zu stellen. „Belle", zischte Emma, „vielleicht hat sie heute einfach einen guten Tag!" „Sie hat nicht einfach einen guten Tag", wisperte Belle und sah sich nach Miss Mills um die gleich wieder an ihrem Pult war, „Vielleicht hatte sie Sex?" Belle kicherte über ihre eigene Vermutung, war sie doch sonst eher die Stille und überließ Ruby solche Art von Sprüchen, und bemerkte nicht wie pikiert Emma sie ansah und dabei den Kopf schüttelte. „Unglaublich", war alles was Emma sagte und wandte sich wieder Miss Mills zu, „und das von dir." „Sorry", grummelte Belle und erkannte wie dumm ihr Spruch war.
„Ich habe hier ein paar Fragen an euch, die ihr bitte zu Hause beantwortet. Außerdem...", Miss Mills hielt kurz inne und atmete tief aus, „möchte ich, dass ihr mir euer liebstes Gedicht aufschreibt." Viele stöhnten genervt auf, doch Emma freute sich über diese Aufgabe, es gab einige in ihrer Auswahl an Lieblingsgedichten, damit würde sie sich heute beim Lesezirkel auseinandersetzen. Die Glocke läutete, die Schüler standen auf und stromerten langsam aus dem Raum hinaus. Emma schulterte ihren Rucksack und trottete hinter Belle her, doch der Klang ihres Namens, den sie fast überhörte, ließ sie innehalten. „Du hast das Gedicht ganz wunderbar vorgetragen, Emma. Danke dafür", Miss Mills Gesicht blieb ausdruckslos, aber die Tonlage war neu und unbekannt, es brachte Emma schlagartig zum Lächeln. „Dankeschön Miss Mills. Ich liebe Rilkes Werke", antwortete diese und Miss Mills kämpfte dagegen an ebenfalls zu grinsen. Es gelang ihr gut, aber Emma war eine Meisterin darin Gesichter zu lesen. „Das habe ich gemerkt", entgegnete Miss Mills und bemerkte wie Emma sie angestrengt musterte. Emma äußerte ihre Gedanken nicht, nickte und wandte sich der Tür zu, nur um dabei gegen den Türrahmen zu laufen.

Evil never looked so good (Swanqueen)Where stories live. Discover now