Kapitel 04 - Von Matheolympiaden und einer Karotten-Diät

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»Ich kann's nicht fassen«, sagte Delia.

»Soll ich dich kneifen?«, fragte ich.

Delia schüttelte hastig den Kopf.

»Nein, nein, passt schon«, beeilte sie sich zu sagen, denn ich hatte sie vor ungefähr fünf Minuten schon in den Arm gekniffen. Insgesamt hatte Delia mich dazu gebracht, die ganze Geschichte, das Treffen mit Kian und sein Angebot, ganze zwei Male zu erzählen. Beim ersten Mal dachte sie, ich würde scherzen, beim zweiten Mal dachte sie, sie würde halluzinieren.

»Na dann, hilf mir mal«, murrte ich. Delia saß im Schneidersitz auf meinem Bett und streichelte Jesus-Reagan. Ihre Theorie war, dass er durch ein geöffnetes Fenster hereingelaufen war. An der Außenwand des Wohnungskomplexes war nämlich eine schräge Regenrinne, und sie begann bei der Wohnung, die im Dach war. Ich wohnte im zweiten Stock, dementsprechend war Jesus-Reagan einen weiten Weg gelaufen.

Andererseits hatte ich keine Ahnung, ob dort oben überhaupt irgendwer wohnte, geschweige denn, wer es sein könnte. Der Komplex deckte nämlich die breite Palette der Klischees eines Wiener Gemeindebaus ab. Von Ottakringern, die ihren Dialekt zum Besten gaben und Bierdosen im Schaukasten ausstellten, bis hin zu unkonventionellen Künstlern und Großmüttern, die herumschrieen, dass man sich das alles nach dem Krieg nie erlaubt hätte, gab es wirklich viele Arten von Nachbarn.

»Wobei denn?«, fragte Delia wenig begeistert, aufstehen zu müssen. »Meine Beine sind eingeschlafen.«

Ich seufzte. »Dieses Riesendrum muss bewegt werden«, sagte ich und deutete auf den Koffer, der oben auf meinem Kasten lag und gemeinsam mit meinen besten Jugendjahren verstaubte. Wenn ich so recht darüber nachdachte, dann war diese Geschäftsreise, und ja, ich war sehr stolz, das mit meinen dreiundzwanzig Jahren schon sagen zu können, seit Langem die erste Reise, die ich unternahm. Meine Eltern hatten ihr Geld nie in Reisen gesteckt, auch wenn ich gerne mehr von der Welt gesehen hätte. Aber dann hatte sich das ganze sowieso erübrigt, weil ich in das betreute Wohnen gezogen war, wo sich vieles erübrigt hat. Mein altes Leben rückte in den Hintergrund, die Menschen, mit denen ich nun unter einem Dach lebte — Gertrude, eine alte Frau, deren Humor ebenso geschmacklos war, wie ihre Hühnersuppe, Paulus III., der dachte, er sei ein Papst, und schließlich Henri, der unser Betreuer war. Auch wenn die drei komisch waren, schloss ich sie in mein Herz. Meine neue Familie war das, bis Gertrude schließlich das Zeitliche segnete und Paul eingewiesen wurde, weil er in eine Kirche eingebrochen war und gegen eine Marienstatue pinkelte. Das betreute Wohnen hatte sich aufgelöst, als ich achtzehn war, Henri war nach Oberösterreich gezogen, um in einem Wohnheim zu arbeiten, und ich war irgendwie in dieser Wohnung hängen geblieben.

»Ich wusste gar nicht, dass du so negativ über deinen Popo sprichst«, feixte Delia und riss mich aus den Gedanken.

»Hm?«, machte ich, aber dann schüttelte ich bloß den Kopf. »Mein Hintern ist wunderbar knackig.« Zu Demonstrationszwecken wackelte ich mit meinem Po ein wenig hinterher und streckte ihn raus, sodass Delia in schallendes Gelächter ausbrach.

»Jaja. Wie das Pfirsich-Emoji.« Sie schüttelte den Kopf und rollte sich elegant wie eine Robbe vom Bett. Jesus-Reagan nahm die Unterbrechung der Streicheleinheit nicht so gut auf, denn er maunzte und sah mich böse an. Ich wusste bis dato gar nicht, dass auch Katzen ein Mienenspiel betreiben können, aber glaubt mir, Jesus-Reagan machte es möglich.

»So. Wie machen wir das jetzt? Ich habe keine Leiter«, gab ich mit verschränkten Armen schnippisch von mir.

»Du hast keine Leiter?«

»Nein, natürlich nicht.« Ich sah Delia schief an.

»Jeder hat eine Leiter, Hannah«, antwortete sie, als wäre das das Logischste auf der ganzen Welt.

Eine Frage des PreisesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt