Kapitel 24 - Der erste Kuss

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Der Hafen von Saint Martin war genauso traumhaft wie der Name der Stadt.

Saint. Ich meine, wenn man einen heiligen Ort besuchte – und dann auch noch einen, dessen Heilig-Sein auf Französisch zelebriert wurde – dann bekam man schon manchmal ein Flattern in der Magengegend oder weiche Knie, die jedenfalls kein standhaftes Fundament für die fünfundsechzig Kilo goldwerte Person, die ich nun mal war, darboten.

Vielleicht sprachen hier ja einige Bewohner Französisch – dann konnte ich Gabriella endlich einmal unter die Nase reiben, dass ich sehr wohl etwas im Kasten hatte. Für mein Studium war es nämlich verpflichtend, eine zweite Fremdsprache neben Englisch zu beherrschen. Da ich seit meiner Kindheit in diversen Französischkursen und -klassen gewesen war – die Volksschule hatte ich sogar im Lycée français de Vienne absolviert – beherrschte ich die Sprache.

»Bist du aufgeregt?«, fragte mich Ben, weil ich in eine Schnappatmung verfallen war und jetzt wie ein kleiner Chihuahua neben ihm hechelte.

Chihuahua? Ja, ich wäre vermutlich wirklich so ein kleiner Kläffer, der eigentlich mit einem Fußkick aus dem Weg befördert werden könnte, aber durch sein Gebell selbst einem Schäferhund Angst einjagte.

Und Ben? Mit seinen türkisen Augen wäre er wahrscheinlich ein Husky. Oder vielleicht doch der eingeschüchterte Schäferhund?

Kian wäre ein Dackel. Da gab es für mich gar keinen Zweifel.

»Wieso sollte ich aufgeregt sein?«, fragte ich eine Spur zu selbstsicher. Ich warf die Haare aus dem Gesicht zurück in den Nacken. »Solange im Essen keine Milch ist und mein Darm nicht einen auf TNT macht, gibt es keinen Grund, aufgeregt zu sein.«

Ben zog eine Braue hoch. »Ich kenne da wen, der etwas anderes behaupten würde.«

»Ach ja?«, fragte ich erstaunt. »Wen denn?«

»Dein Myokard

»Mein was?«

»Dein Herz.«

»Ach so, du musst wieder mit Fremdworten angeben.« Ich legte den Kopf schief. »Ja, das macht meistens irgendwas und nicht das, was mein Kopf will.«

»Dann bist du wohl ein Kopfmensch«, nickte Ben.

»Seh ich etwa aus, als wäre ich völlig bescheuert? Wer auf sein Herz hört, hat sein Leben wirklich nicht im Griff. Das da«, ich deutete auf mein Gehirn, »ist wichtiger. Zwar braucht man beides zum leben, aber nur eines davon kann bestimmen, was es tun will.«

»Aha. Man braucht jedes Organ zum Leben — außer bei den Nieren, da braucht man nur eine.«

»Du bist doch selber ein Kopfmensch, jetzt schau nicht so blöd«, murrte ich in seine Richtung. Die Poolboys lenkten die Yacht gerade in ihren Parkplatz — ein äußerst kritisches Unterfangen. Ich sah uns bereits zwischen gammelnden Oktopoden und Bierdosen im Meer um unser Leben strampeln – der Titanic-Moment schlechthin.

Besser hätte man es nicht inszenieren können, wirklich nicht.

Jedes Mal, wenn im unmittelbaren Radius des Schiffes ein anderes Boot auftauchte, musste ich wegschauen, weil ich sonst Angst hatte, dass wir einen Auffahrunfall herbeiführten. Mit dem Boot.

Sachen gab's.

»Klar bin ich ein Kopfmensch. Die Ratio ist das Einzige, was uns am Leben hält. Wer etwas anderes behauptet, redet Unsinn. Aber ... Ich finde die Vorstellung davon, dass das Herz unbewusst uns mitteilt, was gut und was schlecht ist, irgendwie ... romantisch.« Es war Ben sichtlich unangenehm, dieses Wort — romantisch — auszusprechen. Tatsächlich hätte ich nie gedacht, dass Ben ein Romantiker war. Vorhin dieses ganze Gerede über offene Beziehungen hatte mich in meinem Glauben nur bestätigt und bekräftigt. Und jetzt redete er irgendwas über Romantik? Der kann sich auch nicht entscheiden.

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