14. Dale: Mein Bruder der Vampir

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Schmerzen. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Beine, Brust, Arme, Kopf. Alles tat mir weh. Am liebsten wollte ich einfach wieder einschlafen und nicht mehr aufwachen, aber so einfach war das leider nicht. Ich hatte Verpflichtungen.

Zuerst öffnete ich brummend meine Augen und fasste mir an den schmerzenden Kopf. Ich lag auf einer weichen Unterlage, so viel war schon mal klar. Die weiße Decke über mir konnte quasi überall sein, daher versuchte ich mich aufzurichten und weiter umzusehen. Herauszufinden, wo ich war, verlor allerdings an Wichtigkeit, als Chad mir aufhalf. „Wow, wow, wow, ganz langsam, Großer." Er half mir dabei, mich aufzurichten und sah mich dann, als er neben mir saß, besorgt an. „Wie geht es dir?", fragte er, musterte mich dabei akribisch.

Ich blinzelte mehrmals schnell, um meine Sicht zu klären, doch es änderte nichts daran, dass ich meinen Bruder vor mir sah. Meinen toten Bruder.

„Bin ich tot?", fragte ich. „Bin ich im Himmel?"

Chads Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen, er sah weg von mir und erst dann erkannte ich, dass wir nicht alleine waren. Ich folgte seinem Blick zu dem Mann, der mit verschränkten Armen gegenüber von uns stand und sehr unzufrieden ansah.

„Du bist am Leben", antwortete der Fremde und murmelte kopfschüttelnd irgendwelche Beschwerden vor sich hin.

Er interessierte mich nicht weiter. Ich sah zurück zu Chad, musterte ihn weiter und bemerkte, wie mein Hirn begann zu arbeiten. Vor ein paar Tagen hatte ich mich von ihm verabschiedet, nachdem er bei einer Notoperation ums Leben gekommen war. Ich hatte seine Leiche gesehen, gespürt, wie kalt er gewesen war, ich hatte um ihn geweint. Und nun saß er vor mir – quicklebendig. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben.

Mein Kopf schüttelte sich wie von allein, ein tonlos gehauchtes „Nein" verließ meinen Mund und ich fasste nach Chads Arm. Er war warm, ich spürte einen Puls. Ich wiederholte das „Nein" deutlicher. „Bitte nicht"

Chad schien zu erkennen, was in mir vor sich ging. Er sah beschämt zu Boden, murmelte: „Ich habe nicht darum gebeten"

Ich biss die Zähne fest zusammen und umarmte ihn, ehe ich nachdenken konnte. Mein Bruder war ein Vampir. Aber wichtiger: Er war am Leben.

„Seit wann?", hauchte ich an seine Schulter. Auch er legte zögerlich die Arme um mich.

„Zwei Tage..."

Ich ließ wieder von ihm ab und sah ihn an. In mir tobte gerade alles. Die Freude, ihn wieder zu sehen, ihn wieder zu haben, aber auch das Pflichtgefühl meiner Familie gegenüber. Schon als er noch menschlich gewesen war, war mein Kontakt zu Chad der größte Konflikt zwischen meinen Eltern und mir gewesen.

Dass er nun ein Vampir war... durften sie niemals erfahren. Zwar gab es einen Kodex, nach dem der nächste Angehörige einen Jäger, der zum Vampir geworden war, töten musste, doch, wenn niemand außer mir erfuhr, dass Chad am Leben war, konnte mich auch keiner dazu zwingen, ihn umzubringen.

Ich verstieß also bewusst gegen die Regeln. Das machte ich seltsamerweise immer nur, wenn es um Chad ging. Obwohl meine Eltern wollten, nein obwohl sie befahlen, dass ich mich von ihm distanzierte, war er dennoch immer der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen. Meiner Familie gegenüber hatte ich ein unglaubliches Pflichtgefühl. Ich wollte sie nicht enttäuschen oder ihnen das Gefühl geben, alles, was sie für mich getan hatten, alles, was sie investiert hatten, sei umsonst gewesen. Doch der Unterschied zu Chad war, dass ich bei ihnen gar keine andere Wahl hatte. Folgte ich ihren Anweisungen nicht, wurde ich zumindest bestraft, wenn nicht sogar getötet. Vor Chad hatte ich keine Angst. Ihm gegenüber war ich loyal, weil ich ihn liebte. Weil ich wusste, er war der einzige Mensch... er war die einzige Person in meinem Leben, die das erwiderte.

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