Kapitel 36

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In unserem Leben gibt es Momente, die wir mit nichts aufwägen können. Keine Währung der Welt, kein Edelmetall, nichts kann ausdrücken oder auch nur annähernd ins Gewicht fassen, was diese Augenblicke, mögen es auch nur Wimpernschläge sein, für uns bedeuten. Alleine der Versuch ihren Wert in einer solch lächerlich Weise wie Zahlen sie sind auszudrücken, grenzt an Größenwahn, ja wenn nicht sogar Dummheit. Am liebsten würden wir sie abfotografieren, einrahmen, unsere Wände mit ihnen zu tapezieren, hunderte Fotoalben mit ihnen füllen, nur um uns immer wieder an sie erinnern zu können. Solche Erinnerungen sind meist marginal, für den Außenstehenden sogar mehr als nur unbedeutend, für einen selbst symbolisieren sie aber die ganze Welt, alles Existente und noch viel mehr. Sei es eine Berührung, ein Wort, eine Träne, diese Augenblicke berühren unser tiefstes Inneres, und lassen uns spüren, wie menschlich und fleischlich wir im Endeffekt sind. Wir trauern um ihre Vergänglichkeit, insgeheim leben wir davon und verzehren uns nach dem vergangen Moment, seiner Aura und Wirkung und dem darin liegenden Ausdruck unserer selbst.
Exakt so ging es mir mit all den Momenten, die ich mit Satori verbrachte. Egal wir kurz der lang die Zeit war, die wir miteinander verbrachten, ich liebte jeden einzelnen Bruchteil jeder einzelnen Millisekunde. Es war beinahe so wie das erste Stück Schokolade, das man sich nach einem langen, anstrengend und an den Kräften zehrenden Tag in den Mund steckt. Man beißt mit den Schneidezähnen in das kleine Viereck, es knackt, man schmeckt das süße Aroma und die leichte Bitterkeit, fühlt das Stückchen zart an seinen Gaumen gepresst schmelzen und zerbeißt mit den Backenzähnen den letzten Rest. Meistens schlingt man das erste Stückchen aber viel zu schnell hinunter, es wird den Rachen hinunter gerissen, als hätte man Tage lang nichts gegessen, was zurückbleibt ist die Reue, diesen magischen Moment des ersten Stückchens nicht ausgiebig genossen zu haben. Verzweifelt versucht man, beim zweiten Quadrat wieder genau denselben befriedigenden Effekt herbeizuführen, vergeblich. Das erste Stück Schokolade ist wie einer dieser epischen, gefühlvollen und zutiefst emotionalen Momente: Es zieht viel zu rasant an einem vorbei, was zurückbleibt, ist der Wunsch, es noch einmal, aber länger und bewusster genießen zu können. Jedes Mal, wenn Satori mich wieder alleine ließ, ging es mir exakt genauso. Nur eine Sekunde länger hätte der Kuss dauern sollen, nur ein Augenblickchen mehr hätte er mich halten sollen, bloß eine Muskelzuckung lang hätte ich noch in seine rotbraunen Augen sehen wollen. Ich sehnte mich beinahe schon nach dem Unterricht, wenn ich neben ihm sitzen, ihn in meiner Nähe haben konnte, ohne, dass irgendjemand etwas Ungewöhnliches vermuten würde. Die Zeit, in der ich mit ihm ungestört reden, herumalbern und ganz nah bei ihm sein konnte, war umso kostbarer.

Das war auch der Grund warum ich den ganzen verdammten Sonntagmorgen auf glühenden Kohlen zu gehen schien, und mich benahm wie ein Zirkusartist mit ADHS nach einer intravenösen Koffeininjektion: Ich war so aufgedreht, dass ich mich beinahe selbst nicht mehr ausstehen konnte. Sobald der erste Takt meines Wecktons erklungen war, saß ich aufrecht, nein sagen wir ich stand, im Bett. Ich sah auf die Uhr, schlug die Bettdecke so enthusiastisch zurück, dass sie auf der anderen Seite zu Boden fiel und schritt voller Tatendrang ins Bad. Nichts, aber auch wirklich nichts und niemand, hätte mich in diesem Moment zum Stillsitzen bringen können. Energisch putzte ich mir die Zähne, und schaltete während ich mich fertig machte, meine liebsten K-Pop-Songs ein. Gäbe es eine Show auf der Pariser Fashion-Week zum Thema "Mit Badezimmerutensilien in der Wohnung möglichst dämlich herumtanzen und dabei so laut herumgröllen wie eine Horde wütender Hooligans", ich schwöre, dass ich das wohl meist gebuchte Model für diese Show gewesen wäre. Stilecht sang ich zuerst mit meiner Zahnbürste und so viel Schaum vorm Mund wie ein tollwütiger Rottweiler zu "My House" von 2PM, und gab dann bei einem Haarbürsten-Konzert eine energiegelandene Performance von "Again & Again" zum besten. Nach meiner zweiten Darbietung, bei der ich zwar wie bereits erwähnt schon die Haarbürste in meinen kleinen Mäusefäusten heilt, jedoch noch immer ein übergroßes, weißes Baumwoll-Shirt meines Vaters, das ich seit er es zum Streichen meines Zimmers in London benutzt hatte zum Schlafen verwendete, vor mich hintanzte (ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, dass ich weder einen BH noch eine Hose, sondern wirklich nur das große Shirt und einen Slip trug), und vor meinem geistigen Auge den prall gefüllten Tokyo-Dome hatte, klopfte es an der Zimmertüre. Nichtsahnend tappte ich im Cha-Cha-Schritt in Richtung Tür, um nach deren Öffnen einen verschlafenen Goshiki und einen zutiefst verstörten Shirabu zu finden.
Goshiki gähnte zur Begrüßung erst einmal, ich ließ meine Bürste sinken, und sagte: "Guten Morgen, Jungs. Kann ich euch was helfen, oder was führt euch zu solch früher Stunde in mein bescheidenes Heim?" Lässig gegen den Türrahmen gelehnt, sah ich sie herausfordernd an und drehte meine Bürste in meiner Hand herum. Shirabu schien die Situation ein ganz klein bisschen (aber auch wirklich nur ein gaaaanz kleines bisschen) unangenehm, und Goshiki schien erst jetzt so richtig aufzuwachen, als er bemerkte, dass ich da wirklich und wahrhaftig in meinen Schlafsachen und Unterwäsche vor ihnen stand. Mir fiel das gar nicht auf, ich war nicht unbedingt der prüde Typ Mensch, beziehungsweise war ich es von meinen Freunden gewöhnt mich für nichts an mir, oder besser gesagt für etwaig fehlende Kleidungsstücke, genieren zu müssen. "Ähhhm, guten Morgen, Grace. Wir haben aus deinem Zimmer Laute gehört, die sich angehört haben als würdest du da drinnen einen Katzen-Schlachthof betreiben, wir wollten nur mal nachsehen", Shirabu ergriff das Wort als erster und stellte diese spitzfindige Bemerkung mit leichter Röte auf den Backen aber nicht minder trocken auf die Türschwelle.

Sakura - A Haikyu!! FanFictionOù les histoires vivent. Découvrez maintenant