Kapitel 2

36 4 0
                                    



Ich bin vor genau 10 Minuten in meinem neuen Heim angekommen und hasse es. Nicht die Wohnung an sich, sie ist eigentlich perfekt, aber genau deshalb kann ich sie nicht leiden. Ich will keine tolle Wohnung, wenn mein Leben in Scherben vor mir liegt. Eine Bruchbude würde besser zu mir passen. Ich laufe in den leeren Räumen auf und ab, ruhelos wie ein eingesperrtes Tier, unschlüssig was ich tun soll.
Ich öffne einen Karton und klappe ihn sofort wieder zu, als ich sehe was darin ist: Einer von Sophias Pullis. Der Kloß in meinem Hals wächst, aber ich bin zu erschöpft, um zu weinen. Also setze ich mein Umhergehen in der Wohnung fort. Es ist unheimlich ruhig, fast schon gespenstisch. Ich hasse Stille, weil man immer seine eigenen Gedanken hört und ihnen nicht entfliehen kann. Ich beschäftige mich so ungern mit meinen eigenen Gedanken, dass ich so gut wie immer Musik mit Kopfhörern höre, um die Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen.
Musik war für Sophia und mich eine Art Wunderheilmittel. Wir haben dauernd etwas gehört, sei es Radio oder unsere Playlist. Ich habe sie seit dem Unfall nicht mehr gehört. Es würde zu sehr wehtun. Da meine Augenlider kurz vorm zufallen sind, beschließe ich ins Bett zu gehen. Wie mechanisch wasche ich mein Gesicht und putze meine Zähne.
Ich liebe das Gefühl von Frische direkt nach dem Zähneputzen. Ich lege mich auf die Matratze und beschließe morgen zu erst mein Bett auf zu bauen. Die Stimme meiner Mutter hallt in meinem Kopf wider: Merk dir bloß, was du geträumt hast. Was man in der ersten Nacht träumt wird passieren. Schwachsinn, aber ich brachte es nicht fertig, dies meiner Mutter zu sagen, sondern nickte einfach nur stumm. Wie immer eigentlich, denn ein nein akzeptieren die Menschen weniger, deshalb sage ich immer ja, sie sind glücklich und ich habe meine Ruhe. Ich merke wie meine Glieder langsam schwer werden und ich in den Schlaf übergleite.
Ich bin fast eingeschlafen, als es klingelt. Ich fahre wie von der Tarantel gestochen hoch. Wer bitte klingelt nachts um 4:00? Ziemlich angepisst mache ich mich auf den weg zur Tür. Ich spitze durch den Türspion und erkenne einen jungen Mann, der schwankend vor meiner Tür steht. Na super.  „Kann ich dir helfen?“ frage ich ziemlich unfreundlich, als ich die Tür öffne. Der Typ starrt mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht an. „Du bist nicht Karol.“ Stellt er betrunken fest. Seine Fahne haut mich um und ich habe das Gefühl, allein durch seinen Atem betrunken zu werden. „Das stimmt ich bin Juliette und neu hier.“ Stelle ich mich vor, da ich irgendwie Sympathie für den Mann empfinde, auch wenn er mich mitten in der Nacht aufweckt. Aber er sieht irgendwie niedlich aus mit den Blonden Wuschelhaaren und eisblauen Augen. „Freut mich, ich heiße Julian.“ Sagt er und reicht mir grinsend die Hand, wobei er gefährlich schwankt. Er hat einen festen Händedruck. „Hi“ sage ich unschlüssig, weil ich nicht weiß was ich machen soll. Wir stehen voreinander, er betrunken und ich irgendwie unangenehm berührt durch die Stille zwischen uns, als plötzlich die Tür gegenüber aufgeht. „Julian?“ fragt eine Frau. Er dreht sich um wobei er fasst stürzt. „Kaaarol mein Schatz. Ich hab mich in der Tür geirrt und unsere neue Nachbarin kennengelernt.“ Er sieht so stolz aus, dass es absurd ist. „Bist du nicht ganz dicht? Weißt du wie spät es ist?“ „Schatz ich bin sowas von dicht“ nuschelt er und ich muss mir ein grinsen verkneifen. Karol tritt aus der Tür heraus und rümpft die Nase. „Ja das rieche ich aus der Entfernung. Nun komm du kleiner Suffkopf ich bring dich ins Bett.“ Sie nimmt ihn am Arm, wobei er ihr überschwänglich einen Kuss auf die Wange drückt. Gegen ihren Willen muss sie lächeln und ich schaue auf den Boden. „Tut mir echt leid. Komm doch morgen zum Mittagessen, dann können wir uns richtig kennenlernen.“ Eigentlich habe ich keine Lust, aber den Tag allein mit meinen Gedanken zu verbringen, klingt auch nicht besonders reizvoll, also sage ich ihr zu. Sie strahlt. „Perfekt, dann komm doch um 13:00 Uhr zu uns. Ich koch uns was nettes“ sagt sie und ich nicke. Sie winkt mir zu und hievt ihren Freund in die Wohnung. Ich höre wie die Tür ins Schloss fällt und kann nicht anders als zu grinsen. Ich merke wie mein Körper in die Matratze einsinkt und mich eine wohlige Wärme empfängt.
Ich finde mich in einem dunklen Wald wieder. Eine Gänsehaut kriecht über meinen gesamten Körper. Ich fühle keine Angst, sondern nur leere, die mich innerlich komplett auszufüllen scheint. Ich lasse meinen Blick schweifen. Die Bäume sehen aus wie knochige Hände, die darauf warten mich zu packen. Ich bin barfuß und der Weg unter mir schlammig. Vor mir schlängelt sich ein Pfad, der sich zwischen den dunklen Bäumen verliert. Wie von einer unbekannten Macht getrieben laufe ich den Pfad entlang. Irgendwann sehe ich ein weißes Licht vor mir. Ich bleibe stehen und starre es an, als würde der Anblick mich hypnotisieren. Ich erkenne eine weiße Gestalt darin, die mich an den Patronus aus Harry Potter erinnert. Ich will meine Hand nach dem Licht ausstrecken aber meine Arme sind wie Blei. Die Lichtgestalt dreht sich um „Sophia?“ höre ich mich selbst fragen. Die Gestalt dreht sich um und verschwindet zwischen den Bäumen. Sie lässt nichts als Dunkelheit und Leere zurück. „warte“ rufe ich, aber sie wartet nicht und kommt auch nicht zurück. Sie ist fort.
Schweißgebadet wache ich auf. Meine Wangen sind nass, anscheinend habe ich im Traum geweint und tue es immer noch. Warum macht mein Unterbewusstsein sowas? Es fühlt sich an, als wäre sie ein zweites Mal von mir gegangen. Ich setze mich auf und streiche mein von Tränen und Schweiß verklebtes Haar zurück. Mein Handy sagt mir, dass es 6:00 Uhr ist. Na super. Jetzt kann ich schlafen vergessen. Genervt lasse ich mich wieder auf die Matratze fallen. Es hat sich so real angefühlt. Es war, als wäre sie wirklich bei mir in diesem dunklen Wald. Aber das war sie nicht. Sie wird nie wieder bei mir sein. Ich fange erneut an zu weinen, bis mein Kopf höllisch wehtut und keine Tränen, sondern nur noch Schluchzer aus mir hervorbrechen. Ich springe unter die Dusche und genieße das Gefühl vom Wasser, wie es über meinen Körper läuft und all die Tränen und den Schweiß abwäscht. Würde es mit dem Schmerz nur auch so gehen. Ich fühle mich ein bisschen besser, als ich aus dem Bad komme. Da ich nicht weiß was ich mit mir anfangen soll und schlafen keine Option ist, fange ich an mein Bett aufzubauen.
Nach zwei Stunden voll von Aggressionen und Flüchen steht mein Bettgestell. Fehlt nur noch der Lattenrost, aber wenn ich daran denke, bekomme ich mehr schlechte Laune, also beschließe ich Frühstück zu holen. Ich ziehe mich also an und gehe zum nächsten Starbucks. Als ich endlich den Becher mit dem warmen braunen Lebenselixier in der Hand halte, steigt meine Laune. Ich drehe mich gerade um, um den Laden zu verlassen als jemand in mich rennt und damit den ganzen Kaffee auf meinem Shirt verteilt. „Verdammt pass doch auf.“ maule ich sofort und schaue in entsetzte, braune Augen, bei denen ich sofort an Bambi denken muss. „Fuck, tut mir leid. Hast du dich verbrannt?“ fragt die junge Frau und versucht das Massaker mit Servierten zu beseitige,  aber der Fleck wird dadurch nur größer. „Hör auf. Es passt schon okay?“ sage ich ungehalten und stürme aus dem Laden, ehe sie noch etwas sagen kann. Ich spüre den Blick der anderen Menschen in meinem Rücken, aber es ist mir egal. Wie so vieles. Ich will nur zurück in die Wohnung und den Rest des Tages dortbleiben. Mich verkriechen und in Selbstmitleid baden, denn das kann ich am besten. An meiner Tür klebt ein Zettel: „Tut mir leid wegen gestern, ich hoffe du magst Schokocrossaints.“ Steht darauf ich nehme die Tüte und atme den Geruch von warmer Butter und Schokolade ein. Mein knurrender Magen erinnert mich daran, dass ich seit gestern nichts gegessen habe. Ich baue meine Kaffeemaschine auf und mache mir einen neuen Kaffee. Danach verputze ich die beiden Crossaints und lecke mir die Schokolade aus dem Mundwinkel. Sie schmecken göttlich. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch drei Stunden Zeit habe, bevor ich zu Karol und Julian rübergehe. Ich verbringe sie damit Kisten auszupacken, wobei ich es ganz besonders vermeide einen Karton auszupacken. Er steht in der Ecke wie ein stilles Denkmal. Zufrieden mit meinem Werk ziehe ich mich ordentlich an, setze meine fröhliche Maske auf und verlasse meine Wohnung, bereit die neuen Menschen in meinem neuen Leben kennenzulernen. 

Withered RosesWhere stories live. Discover now