Kapitel 30

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Es dauerte nicht lange, und die schweren Gewitterwolken entluden ihre gesamte Last über der Erde. Zuerst vereinzelt und dann zu hunderten klatschten mir die riesigen Tropfen ins Gesicht. Ich hatte alle Mühe, irgendwie die Augen weit genug offen zu halten, um ansatzweise zu sehen, wohin ich ritt. Lia, die bis eben noch ein kleiner Punkt in der Ferne gewesen war, war nun aus meinem Sichtfeld verschwunden, doch ich trieb mein Pferd weiter an, in der Hoffnung, sie irgendwann einzuholen. Der Wind zerrte an meinen Haaren und mein Kleid hing an mir, wie ein Gewicht, das mich nach unten zog. Ich krallte mich an Paddys Mähne fest, doch meine Finger begannen, das Gefühl zu verlieren und so rutschte ich immer wieder ab. Ich konnte jetzt nicht fallen. Nicht, bevor ich meine Schwester nicht gefunden hatte.

››Lia!‹‹, schrie ich in den tosenden Regen hinaus. ››Lia, antworte!‹‹ Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Und vor allem, was war vorgefallen, das sie dazu veranlassen könnte, so eine dumme Aktion zu starten? Aber eigentlich war mir das in dem Moment egal.

Das hier war wie ein böser Traum und ich würde stürzen, wie in meinem tatsächlichen Alptraum, wenn ich mich nicht bald beruhigte. Ich versuchte also, tief durchzuatmen, nahm die Spannung in meinem Körper so gut es ging wieder auf und duckte mich tief über Paddys Rücken. Ich redete der Stute beruhigend zu.

››Ganz ruhig. Ich brauche dich jetzt. Wir müssen sie finden.‹‹

Als würde sie mich verstehen, wurde Paddys Galopp mit einem Mal ruhiger, immer noch wahnsinnig schnell, aber kontrolliert und voller Kraft, anstatt voller Panik. Es tat mir leid, dass ich sie in diese Situation bringen musste, doch wenn ich Lia nicht hinterhergeritten wäre, hätte niemand einen Plan, wo sie sein könnte und sie wäre ganz alleine gewesen.

Noch immer war keine Spur von meiner kleinen Schwester zu sehen. Die schlimmsten Vorstellungen begannen sich in meine Gedanken zu schleichen, genau wie Panik in mir aufstieg, als ich mir über die gesamte Situation klar wurde. Ich saß ohne Ausrüstung auf einem Pferd und versuchte in einem schrecklichen Sturm, meine Schwester zu finden, der wer weiß was passieren könnte, und die ich womöglich nicht rechtzeitig finden würde. Aber für so etwas hatte ich keine Zeit. Ich ignorierte meinen rasenden Puls, den peitschenden Regen, meine tauben Hände, und rief weitere Male nach Lia, nur um danach wieder zu lauschen, ob von irgendwo her ein Zeichen von ihr kam. Dann durchschnitt ein schriller Schrei die Luft, der von viel weiter rechts kam, als die Route, auf der ich mich befand. Lia, endlich! Ich bremste Paddy ruckartig ab und wir schlugen einen Haken, dass ich schon fürchtete, wir würden stürzen, doch ihre Hufe fanden halt und mit gewaltiger Kraft, galoppierte sie in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

››Lia, wo bist du?‹‹, rief ich erneut, aber erhielt nach wie vor keine Antwort. Kurz darauf war auch keine mehr nötig, denn in einem Graben zwischen zwei Feldern, sah ich ein kleines Mädchen regungslos liegen. Ein Schreckenslaut entfuhr mir und ich fiel neben Lia auf die Knie.

››Lia! Lia, hörst du mich?‹‹

Ich rüttelte sie an den Schultern. Sie öffnete ganz leicht die Augen, doch dann fielen sie ihr wieder zu und sie regte sich nicht mehr. Angst überkam mich. Angst, dass ich zu spät gekommen war. Angst, dass ich sie verlieren könnte und Angst, weil ich nicht wusste, was ich nun tun sollte. Mittlerweile liefen nicht nur die Regentropfen über meine Haut, sondern auch Tränen, wie ich vermutete, denn mein Gesicht glühte förmlich. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, einen klaren Kopf zu bewahren, vielleicht sogar klarer als zuvor. Ich hob den Kopf, um mich umzusehen. Wir befanden uns mitten im Nirgendwo. Keine Gebäude, keine Felsen, unter denen wir hätten Schutz suchen können, kein einziger Anhaltspunkt, um mich zu orientieren. Lia auf Paddy zu legen und irgendwie irgendwo Schutz zu suchen erschien mir als die einzig sinnvolle Sache, die ich tun konnte. Ich hievte meine Schwester, die leise, schmerzerfüllte Laute von sich gab, auf den Pferderücken. Aus irgendeinem Grund war ich erleichtert, denn, auch wenn sie Schmerzen zu haben schien. Lia war am Leben und zumindest teilweise bei Bewusstsein, und ich betete, dass sich ihr Zustand, nicht verschlimmern würde. Ich nahm meine Stute am Halfter und begann, langsam über die aufgeweichten Felder zu laufen, einfach irgendwo hin, in der Hoffnung, Schutz zu finden.

Zwei Herzen, eine SeeleWhere stories live. Discover now