Teil 3

4.2K 31 2
                                    

Nachdem wir Sophie am vereinbarten Ort gefunden hatten und wir uns einander vorgestellt hatten, machten wir uns auf den Weg.
In der Mittagszeit war die Stadt beinahe so voll wie der Bahnhof. Die Menschenmassen bewegten sich wie durch Honig in zwei Richtungen die Straßen entlang und wir hatten keine andere Wahl als Teil dieser Menge zu sein. Wollte man in die andere Richtung, musste man die Straßenseite wechseln, um in den entgegenlaufenden Strom zu gelangen. Zoey zeigte sich trotz der vielen Menschen ziemlich fröhlich und uns gegenüber extrovertiert. Ich hatte sie früher immer als eine ruhige und zurückhaltende Person in Erinnerung. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihre Unsicherheiten im Geiste der Großstadt besiegt, vielleicht täuschten mich aber meine Erinnerungen.
Durch welche Märkte oder Feste dieser Trubel an Menschen auch angelockt wurde, wir mussten unfreiwillig daran teilnehmen. Ironischerweise hatte man nur in den Läden das Gefühl wieder richtig atmen zu können. So wurden wir von der Menge die Straßen entlang geschoben und bogen ab und zu in eines der Geschäfte ab.
Als Sophie den Vorschlag machte, in einen Klamottenladen abzubiegen, wusste ich bereits, was auf mich zukam. Mit offenen Mündern liefen die beiden durch das Geschäft, schnappten sich verschiedene Röcke und Kleider, zeigten diese einander und mussten meist nach einem Blick auf das Preisschild suchen, wo sie es hergenommen hatten.
Doch nach einiger Zeit hielten beide einen Stapel von anzuprobierenden Klamotten unterm Arm. Sophie verschwand in einer der Umkleidekabinen, derweil Zoey sich noch weiter durch die Haufen an Blusen und Jacken wühlte. Wahrscheinlich würde ich mein Geld nicht in diesem Laden lassen, aber dennoch nahm ich mir eine Jeans mit in eine Umkleidekabine, um sie anzuprobieren. Während ich ungeschickt versuchte, mich in die Hose zu quetschen bemerkte ich etwas. Die Wand zur Kabine neben mir war nicht richtig festgeschraubt worden, weshalb ein feiner Spalt zwischen den Brettern entstand. Ich warf einen Blick hindurch und sah Sophie. Nur mit Unterwäsche bekleidet hielt sie sich vor dem Spiegel ein blaues Kleid mit aufgestickten Blumen an. Ich war wie gebannt. Ihre Figur war sehr schlank, beinahe dünn, aber auf keine ungesund aussehende Weise. Ihre Brüste waren relativ flach, aber es passte sehr gut zu ihrem restlichen Erscheinen. Ich riss meinen Blick wieder los.
Mir kam ein Gedanke. Aus der Tasche meiner Jeans, die am Haken der hölzernen Wand hing, kramte ich den zusammengeknüllten Zettel heraus und versuchte ihn mit wenig Erfolg an einem Brett glattzustreichen. Lesbar war er zumindest. Ich schloss an die Stelle des Textes an, bei der ich aufgehört hatte.
„Wir haben der Geschäftsführerin Anna Guns unsere brennenden Fragen zu ihrer revolutionären Idee gestellt.
Interviewer: Wie stellen Sie sich das genau vor, ist das Ganze ein erotischer Kick oder steckt wirklich ein Zweck dahinter?
Anna: Nein, es soll tatsächlich Menschen den Alltag erleichtern. Denken Sie doch einmal daran, wie lange jeder täglich auf der Toilette verschwendet.
Interviewer: Da haben Sie recht, aber wie wollen Sie Erwachsene dazu motivieren, Windeln zu tragen?
Anna: So wie jeder Modetrend, muss einfach nur irgendjemand beginnen und sobald der Funken übergesprungen ist, will plötzlich jeder Windeln tragen.
Interviewer: Aber jeder Modetrend hat doch auch ein Ende, befürchten Sie denn nicht das Gleiche für Ihre Produkte?
Anna: Ganz so einfach ist das nicht. Ich möchte nicht nur einen neuen Trend starten, sondern die Gesellschaft in dieser Hinsicht verändern.
Interviewer: Sie sind also eine richtige Pionierin.
Anna: Ja, das könnte man so sagen.
Interviewer: Wie wollen sie es denn anstellen, dass Leute langfristig Windeln tragen?
Anna: Dazu haben wir die sogenannten Starterwindeln entwickelt. Unsere besten Leute arbeiten schon lange an dem Produkt, aber um die Funktion kurzzufassen: Wenn ein Käufer eine der Windeln nachts anzieht, wird während des Schlafens ein kleiner Vibrationsmotor aktiviert, der dem Körper durch sexuelle Stimulation signalisiert, dass die Windel etwas Positives ist. So lässt sich im Gehirn des Nutzers sozusagen einprogrammieren, dass sie die Windel brauchen und mögen.
Interviewer: Führt das anschließend bei der Person also zu Inkontinenz?
Anna: Genau. Aber nicht nur das, sondern der Kunde selbst wird weiterhin von sich aus Windeln tragen wollen. Wir haben auch noch ein paar weitere Funktionen geplant, aber das ist alles noch in der Testphase.
Interviewer: Fürchten Sie nicht, dass Nutzer Ihres Produktes von anderen ausgeschlossen werden könnten?
Anna: Ich bin mir sicher, dass, sobald es die neue Norm ist, es ganz normal ist, Windeln zu tragen.
Interviewer: Ab wann sind Ihre Produkte denn erhältlich?
Anna: Wir testen schon längere Zeit unsere Artikel an bezahlten Testern und in ein paar Tagen werden unsere Produkte auch in beinahe allen Drogerien erhältlich sein.
Interviewer: Dann wünsche ich Ihnen viel Glück mit ihrer Produktreihe und bedanke mich herzlich für Ihre Zeit.
Anna: Ich bedanke mich ebenfalls."
Ich war zugleich verwundert und verwirrt. Umso mehr ich nachdachte, desto mehr fühlten sich meine Gedanken genauso wie die Masse in den Straßen an.
Gedrosselt, schleichend, kraftlos. 
Ich versuchte zu verstehen, was ich gerade genau gelesen hatte. Mein Gehirn begann alle möglichen Fragen zu formulieren, die alle mit den gleichen Wörtern begannen, doch sofort wieder von der nächsten Phrase verdrängt wurden, bevor ich darüber nachdenken konnte.
„Kommst du?", hörte ich dumpf, beinahe von meinen Gedanken übertönt. Ich schreckte auf.
„J-ja, ich komme", gab ich zurück. Ich zog meine Hose wieder an und stopfte den Artikel schnell wieder in meine Tasche. Die Jeans hängte ich wieder an ihren Platz zurück und nachdem Zoey und Sophie gezahlt hatten, verließen wir den Laden und verschmolzen wieder mit der Menge.
Derweil wir uns mit kleinen Schritten durch die Masse bewegten, kreisten immer noch die gleichen Gedanken in meinem Kopf herum. Ich musste mich konzentrieren, dass nicht in meinen Gedanken versank und die vielen Menschen und Eindrücke um mich herum in ein Gemisch aus Farben verschmolzen. Trotzdem gelang es mir, langsam einen Gedanken nach dem anderen zu fassen.
Es war zwar unwahrscheinlich, aber wenn die Produkte von Wathos erfolgreich sein sollten und jeder künftig Windeln tragen würde, würde dies eine immense Kontrolle über den Kunden bedeuten. Bereits viele Unternehmen sind mit Suchtmitteln reich geworden, auch wenn sich viele ihrer eigenen Abhängigkeit klar bewusst sind und sich von dieser lösen wollen. Würde genau dieser Faktor fehlen, dass aktiv versucht wird, gegen die Sucht vorzugehen, stünde dem Aufstieg eines Modetrends zur Gesellschaftsnorm nichts mehr im Wege. Alle würden Windeln tragen, weil sie es einerseits durch ihre Inkontinenz müssten, es aber auch von sich heraus wollten. Niemand würde Kritik äußern und niemand würde sich gegen die Änderung wehren. Mit einem Monopol in einer solchen Stellung wäre Geld eventuell gar nicht das größte Ziel, sondern die Macht.

Eine neue Welt - Eine ABDL-GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt