Kapitel 22

38 16 1
                                    

Kaum spürte James den Boden unter seinen Füßen, ließ das Schwindelgefühl, das ihn für einen Moment so unangenehm übermannt hatte, abrupt wieder nach. Sein Griff um die ledernen Ziegel hatte sich verstärkt, als wären sie sein einziger Halt, nachdem er durch das Portal geschritten war, das Yennefer erschaffen hatte. Diese Dinger waren noch nie sein liebster Weg zu reisen gewesen und auch dieses Mal hatte sich seine Einstellung dazu nicht verändert. Deshalb zählte er sich lieber auf sein Pferd, das ihn bisher noch nie enttäuscht hatte. Zwar dauerte seine Reise so oft länger, als wenn er einfach ein Portal nutzte, doch zumindest konnte man ihn nicht so einfach aufgespürt werden. Obwohl ihnen dieser Nachteil bei der Suche nach Grace möglicherweise von Nutzen sein könnte.

Er warf einen Blick hinüber zu Yennefer, die neben ihm wieder aufgetaucht war, und musterte sie für einen Augenblick. Sie schien mit diesem Reiseweg im Gegensatz zu ihm keinerlei Probleme zu haben, doch trotzdem meinte er bemerken zu können, dass sie noch immer nicht wieder zu ihrem normalen Zustand zurückgekehrt sein konnte. Jedoch war es bereits deutlich besser, als noch zu dem Zeitpunkt, als sie sich unter dem Einfluss des anderen Magiers befunden hatte und er musste ehrlich sagen, dass ihr dieser Anblick Angst gemacht hatte. Ein Gefühl, für das er sich selbst verfluchte.

Yennefer schluckte schwer, bevor sie sich in Bewegung setzte und James damit dazu brachte zum ersten Mal seine Umgebung zu begutachten. Sie standen an einem Waldrand, der in eine freie, grasbewachsene Fläche mündete. Hindurch zog sich ein dünner, sandiger Pfad, der auf ein Gebäude mit dicken Steinmauern zuführte.
„Was für ein Ort ist das hier?", fragte James mit leicht hochgezogenen Augenbrauen, während er sich ebenfalls in Bewegung setzte, um neben ihr her schreiten zu können.

Kurz zögerte die Dunkelhaarige und senkte den Blick auf ihre Schuhe. Ihr blieb keine andere Wahl, als ihm zu sagen, was es mit der regelrechten Festung auf sich hatte, weshalb sie sich überwand und die Stimme erhob: "Hier habe ihr sehr lange gelebt und wurde darin unterwiesen meine Magie zu kontrollieren und richtig zu nutzen. Genauso wie viele andere magisch begabte Mutanten."
„Und warum hast du uns hierher gebracht?", hakte er weiter nach, sich immer noch nicht sicher seiend, was sie vorhatte. Ein weiteres Wort darüber verloren hatte sie bisher nicht.
„Du hast recht. Meine Kräfte sind noch nicht wieder völlig zurück und deshalb kann ich nicht einfach alleine nach dem Portal suchen, durch das sie Grace entführt haben", ihr war anzusehen, dass sie das nicht gerne zugab und es ihren Stolz ein wenig verletzte: "Hier finden wir deshalb andere Magier, die mir bei der Suche helfen können. Außerdem können meine eigenen Kräfte sich so schneller wieder regenerieren und nebenbei können wir versuchen herauszufinden, was der Dschinn getan hat."

James musste zugeben, dass der Plan tatsächlich nicht schlecht war. Es beruhigte ihn zu wissen, dass sie sich selbst eine Pause erlaubte und nicht vorzuhaben schien sich selbst zu überanstrengen. Auch wenn er sich sicher war, dass es ihr nicht leicht fallen würde sich auch daranzuhalten und es nicht auszuschließen war, dass sie ihre eigenen Worte später missachtete.
„In Ordnung", sagte er mit einem kurzen Nicken, während sie sich auf das bogenförmige Loch zubewegten, das den einzigen Durchgang in der schützenden Mauer bildete. Er hatte nicht damit gerechnet, doch nun wirkte es so, als würde sich ihm die Möglichkeit eröffnen mehr über die Frau zu erfahren. Bisher wusste er schließlich nicht einmal, wieso sie den Auftrag angenommen hatte und es hatte nicht so gewirkt, als würde sie wollen, dass sich das ändert.

Die Hufschläge ihrer Reittiere klapperten auf dem Stein, als sie in den Hof des Anwesens traten, das man beinahe als Festung bezeichnen konnte. Sonnenstrahlen fielen hinein und spiegelten sich in den Pfützen, die sich zwischen dem Pflasterstein gebildet hatten und noch immer von den starken Regenfällen der vergangenen Nacht zeugten. Zu seiner Rechten bemerkte James einen schmächtigen Jungen, der im Stall hin und her huschten und sie dabei gar nicht zu bemerken schien. Ansonsten war einige Sekunden niemand zu entdecken, bevor die majestätischen Doppeltüren aus dickem Holz plötzlich aufgestoßen wurden und eine Frau, die ihr hellblondes Haar zu einem kunstvollen Knoten gebunden hatte, erschien. Sie war von dünner Statur und hatte fast schneeweiße Haut, die ihrem Erscheinungsbild etwas Zerbrechliches verlieh. Besonders hervor stachen jedoch ihre blauen Augen, deren Farbe sich in ihrer Kleidung wiederfand. Sie eilte beinahe freudig erregt auf die beiden Ankömmlinge zu und brachte Yennefer damit dazu stehenzubleiben.

„Yennefer", rief sie ekstatisch und schloss die Dunkelhaarige augenblicklich in ihre Arme, als sie bei ihnen angekommen war: "Wie schön dich endlich wiederzusehen. Ich wusste, dass du irgendwann zurückkommen würdest."
„Freya", ohne nur darüber nachzudenken, schloss Yennefer die Frau in ihre Arme und musste sich ein leichtes Seufzen verkneifen, als ihr der gewohnte Geruch von Esche in die Nase stieg. Obwohl sich ihr Innerstes dagegen gesträubt hatte diesen Ort aufzusuchen und sie sich sicher war, dass dieses Gefühl schnell genug wieder verfliegen würde, machte sich ein Gefühl der Geborgenheit in ihr breit. Sie hatte ihre Gründe gehabt, um von hier wegzugehen und hielt noch immer an ihnen fest, doch nun Freyas Umarmung zu spüren war trotzdem etwas, was sie zugegebenermaßen vermisst hatte.

Für einen Moment schloss sie die Augen, bevor sie sich daran zurückerinnerte, dass sie nicht hier war, um eine alte Freundin wiederzutreffen. Deshalb löste sie sich langsam wieder und setzte einen ehrlichen Gesichtsausdruck auf: "Ich bin nicht einfach so wieder hier. Allerdings brauche ich Hilfe."
Selbst ihrer Freundin gegenüber fiel es ihr nicht leicht es zuzugeben, dass es Dinge gab, die sich nicht alleine schaffte und es kratzte an ihrem Stolz, dass sie hierher zurückkehren musste, um um Hilfe zu bitten. Besonders, da es doch dieser Auftrag gewesen war, mit dem sie beweisen wollte, dass sie imstande war alleine zu überleben und weder einen König noch andere Magier brauchte. Jedoch ging es hierbei um etwas viel wichtiger, als ihre eigenen Gefühle, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb, als dies zu tun.

„Ich muss mit dem Meister sprechen", fügte sie dann hinzu, woraufhin auch Freyas Gesichtsausdruck ernster wurde. Kurz fiel ihr Blick auf James, den sie nun zum ersten Mal richtig zu bemerken schien, doch sie sagte nichts, als würde es ihr nicht zustehen genauer nachzufragen. Stattdessen reckte sie ihren Kopf in Richtung des Stalls und rief: "Gerard, komm bitte her und kümmere dich um die Pferde von Yennefer und ihrem Begleiter."

Der Junge, der nicht viel älter sein konnte, als fünfzehn eilte sofort herbei, als sie seinen Namen ausgesprochen hatte und nahm die Zügel von Yennefers Pferd entgegen. Dann streckte er James eine Hand in, welcher jedoch für einen Moment zögerte. Er fühlte sich nie wirklich wohl dabei jemand anderem die Aufsicht über Raven zu übertragen, doch bei dem Jungen hatte er zumindest ein besseres Gefühl, als bei den dämlichen Stallburschen an menschlichen Höfen. Die Möglichkeit, dass dem Hengst in der augenscheinlichen Ausbildungsstätte der Magier etwas geschah, schätzte er einfach deutlich geringer ein. Deshalb reichte ein Blick von Yennefer aus, um ihn dazu zu bringen, ihm die Zügel in die Hand zu drücken und sich wieder auf das eigentliche Geschehen zu konzentrieren.

„Folgt mir", bat Freya, sobald der Stalljunge die Pferde abgeführt hatte und setzte sich langsam in Bewegung, um gefolgt von ihnen die Treppe hinauf zu steigen und durch die Eingangstore zu schreiten: "Ich bin sicher, dass der Meister dich nur zu gerne empfangen wird." 
Darauf antwortete Yennefer nicht. Diese Vermutung hatte sie auch gehabt, doch sie wusste nicht, wie sie sich diesbezüglich fühlen sollte. Immerhin war er einer der Gründe dafür gewesen, dass sie sich dazu entschieden hatte fortzugehen, um unabhängiger zu werden.

Kingdom of DespairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt