Fünfundsechzig

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Unmöglich. Es war absolut unmöglich. Jacob war tot. Eine Mutation hatte ihn weggeschleift, nachdem ein Nigreos ihm in die Brust geschossen hatte. Seine Flügel waren zusammen mit dem getöteten Schützen zu Asche verbrannt worden. Zweifellos waren es seine Schwingen gewesen, die an dem Rücken unseres Angreifers festgenäht worden waren. Und doch stand er jetzt vor mir.
 
Ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Ich stand einfach da und starrte ihn an. Zu mehr war ich nicht fähig. Obwohl mein Hirn noch zweifelte, wusste mein Herz bereits, dass ich tatsächlich meinen großen Bruder vor mir hatte.

Auf der einen Seite hatte er sich verändert, auf der anderen Seite wieder nicht. Er war älter geworden, natürlich, und der Bart war neu. Seine Augen hingegen waren die gleichen wie früher. Wenn ich ihn ansah, hatte ich noch immer das Gefühl in die Augen meines Vaters zu blicken. Feine Fältchen hatten sich an deren Rändern gebildet, die ihn nicht nur reifer, sondern noch liebenswerter wirken ließen. Doch soweit ich mich erinnern konnte, waren seine Haare braun gewesen und nicht rot... oder?
 
„Ich bin es wirklich, Aria", sagte Lex jetzt mit seltsam dumpfer Stimme. Seine Lippen verzogen sich zu seinem typischen Große-Bruder-Lächeln, was mich letztendlich dazu brachte mich aus meiner Starre zu reißen.

Zum zweiten Mal landete mein Schwert im Matsch und ich überbrückte den Abstand zwischen uns mit wenigen Schritten. Bevor ich mir jedoch Sorgen machen konnte wie er wohl reagieren würde, hatte er bereits seine Arme um mich geschlungen und zog mich in eine feste Umarmung.

Er jetzt, wo ich ihn berührte, war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich ihn mir nicht nur einbildete und das war der Moment, in dem meine Dämme endgültig brachen. Glück flutete meinen Körper und die Erleichterung war so überwältigend, dass ich aufschluchzte. Als hätte ich Angst, dass ihn mir jemand sofort wieder entreißen könnte, klammerte ich mich an ihn und drückte mein Gesicht gegen seine Brust.
 
Ich konnte gar nicht in Worte fassen wie sehr ich ihn vermisst hatte. Alles an ihm. Sein Lächeln, seine Stimme, sein Geruch. Obwohl er mit Schlamm, Ruß und Blut überseht war und sich der Rauch in seiner Kleidung festgebissen hatte, roch er noch immer nach Zuhause.

Ich hatte meinen großen Bruder zurück; meine Familie. Ich war nicht mehr alleine.

Diese Erkenntnis war so überwältigend, dass meine Beine unter mir nachgaben. Doch anstatt mich aufzufangen, sank Jacob mit mir auf den Boden. Sein Atem fiel auf mein klatschnasses Haar und er umgab mich wie ein Schutzschild.

„Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr ich dich vermisst habe, kleine Schwester."

Seine Stimme war endgültig gebrochen, woran ich merkte, dass er ebenfalls weinen musste. Seine Worte löste eine weitere Tränenflut aus, weshalb ich nicht antworten konnte. Doch ich fand es ohnehin überflüssig ihm zu erzählen, dass es mir genauso gegangen war.
 
Ich konnte nicht sagen wie lange ich mich an ihn klammerte und wie ein kleines Kind heulte, aber irgendwann schaffte ich es mich wieder einzukriegen.

Ich löste mich von ihm und sah ihn an. „Deine Haare", lachte ich. Noch immer liefen mir Tränen über die Wangen, die ich einfach nicht stoppen konnte. „Sie sind rot." Soweit ich mich erinnern konnte, waren sie früher braun gewesen und er hatte sie gehasst, weil er sie von unserer Mutter geerbt hatte.

Er lächelte. „Ja. Hat lange gebraucht, aber letztlich komme ich wohl doch nach Dad. So wie du."
 
Schließlich erhoben wir uns wieder, er schaffte es jedoch kaum seinen Blick von mir abzuwenden. „Meine kleine Schwester ist eine Ailée", seufzte er stolz und wischte mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

Wieder zog sich meine Brust zusammen. Es war das, was ich mir die ganze Zeit über gewünscht hatte. Dass er sah, was aus mir geworden war; was ich aus mir gemacht hatte.

Feather, Sword & BloodWhere stories live. Discover now