Leise rieselt der Schnee

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Schleifend, mit Augenringen, deprimiert und leer ging Henry zu seinem aktuellen College. Der letzte Ort, an den er jetzt noch wollte. Doch ließen ihn alle in Ruhe. Keiner sprach ihn an, sah ihn auch nur an. In der dritten Stunde wagte sich der Erste, zittrig Henry anzusprechen: "H- hey, Henry... Ich wollte mich entschuldigen, für meine ganzen Kommentare... Das alles meinte ich nicht und... Bitte erschieße mich nicht!". Darauf zeigte Henry nicht viel Reaktion. Selbst, als eine Lehrkraft ihn zu einem Privatgespräch mit der Direktorin bat, gab er kaum etwas ab. Die Direktorin war aber stark besorgt: "Weißt du, welche Bilder und Videos von dir in den letzten zwölf Stunden rum gingen? So leid es mir tut, wahrscheinlich wird dich die Polizei abholen müssen. Deine Eltern müssen wir auch informieren. Zwar warst du immer ein wunderbarer Schüler, aber wir haben dich vom College zu werfen". Keine einzige Bewegung.

Als er im Polizeiwagen saß, sah er aus dem Fenster und dachte nach: "Was soll das alles? Ich bin nicht mal sauer darüber, vom College zu fliegen. Trauer, Enttäuschung, Wut... Nichts. Bin ich nicht sogar eher froh darüber? Dass ich wohl auf gar kein College jemals mehr gehen kann? Ganz bestimmt nicht Harvard? Ich will einfach gar nicht mehr irgendwo sein. Nicht mal am schönen weißen Sandstrand. Naja, vielleicht in den einsamen Bergen, wo ich wirklich einfach schreien dürfte... Ansonsten? Ansonsten wäre ich gerne im Quartier. Bei den ganzen Gesetzesbrechern und Verrückten mit Waffen. Mittlerweile gehöre ich doch selbst in diese Gruppe. Offiziell nun auch"

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Mit verschränkten Armen stellte Shark Koi zur Rede: "Fühlst du dich nicht schuldig?". "Nope", gab Koi knapp von sich. "Wieso? Teddy ist jetzt ganz traurig und verloren", fragte Shark böse. "Weil Ilus mich provoziert hat. Früher oder später wäre es passiert. Egal, wer ihm die Waffe gegeben hätte. Dass es in der Öffentlichkeit war, war Pech", rechtfertigte Koi sich. Da hatte Shark eine andere Meinung: "Du hast ihm Waffe in Öffentlichkeit gegeben". "Hör zu, ich habe es schon wieder gerückt. Ich kann sein Leben zur Hölle machen, genau so gut kann ich sein Leben retten. Er ist wieder ein unbeschriebenes Blatt. In einer Stunde wird die Polizei fest stellen, dass es gar kein einziges Bildmaterial für Beweise gibt. Henry wird sich nicht raus reden können, das kann man aber auf seine Trauer gegenüber seines besten Freundes schieben. Du brauchst mir jetzt keine Vorwürfe an den Kopf zu schmeißen oder mich so grimmig einäugig anzustarren", zog er den Schlussstrich. "Hmpf", schnaufte Shark und kehrte ihm den Rücken zu.

Beide waren verwundert, als sie Ilus durch den Flur wandern sahen. Zigz rannte ihm nach: "Aber du darfst dich noch gar nicht bewegen!". Als Dexter mit den Armen voller Lichterketten nach dackelte, folgten auch Shark und Koi aus Neugierde. Gemeinsam hingen Ilus und Dexter ein paar Lichterketten auf. Shark erwähnte verwirrt: "Lichter sind zu auffällig". Ilus gab den Befehl raus: "Wir werden das ganze Ding hier bunt schmücken, bis alle kotzen. Wir geben Henry das beste Weihnachtsfest jemals". Zigz regte sich leicht auf: "Wir haben noch nie gefeiert, aber jetzt auf einmal zwei Tage vorher?!". Scharfkantig sah Ilus ihn an und wiederholte sich: "Ich habe gesagt, wir geben Henry das beste Weihnachtsfest überhaupt, das war eine klare Anweisung!". In Furcht sprangen alle auf: "Ja, Chef!".

Kurze Zeit später rollte Zigz in Lichterketten gefangen die Treppen runter und schrie: "Hilfe! Ruft den Notarzt!". Koi hielt sich möglichst außen vor, indem er sich unter der Treppe hinter den Kisten versteckte und sich um etwas Musik kümmerte. Shark sah sich das Geschenkpapier und die Kartons an. Mehrmals tippte er mit der Rolle auf einen Karton. Letztendlich wollte er mit Wucht drauf hauen. Ilus nahm es ihm ab und bat: "Könntest du bitte die Wand wieder etwas aufbauen?". Er nickte und kümmerte sich um die raus gesprengten Ziegelsteine. Andere brachten eine frische Tanne rein oder kümmerten sich mit um die Lichterketten. Mittendrin bekam Ilus einen Anruf von Kiki: "Hey, weißt du, was mit Henry los ist? Ich kann ihn gar nicht mehr erreichen". "Ein paar Dinge sind vorgefallen. Wenn du hierhin kommst, uns mit Dekorieren hilfst und mich nicht erdrosselst, kann ich dir auch sagen, was geschehen ist", stellte er als Bedingung. "Dekorieren? Im Sinne von Weihnachten?", war Kiki aufgeregt. "Mhm", nickte Ilus knapp. "Ich bin in zehn Minuten da", lachte sie glücklich.

Dexter fand in der Stadt eine günstige Box an Baumschmuck. Darunter war ein Mistelzweig, den er direkt über den Haupteingang hing. Für eine Pause setzte Ilus sich auf eine große Holzkiste und sah sich um. Es war für ihn zu lange her, um sich genau an Traditionen und Bräuche zu erinnern. Das einzige, was er wieder erkannte, waren bunte Lichter und grün-rote Bänder und Tücher. Auch Kiki half mit. Später waren sie mit dem Baum so weit, dass Kiki Mitya auf ihre Schultern hob und er den Stern auf die Baumspitze setzte. Doch, daran konnte Ilus sich doch noch erinnern. Shark fand eine Lösung für die kaputte Wand, indem er große Metallbleche und Holzkisten davor stellte. Ließ zwar jegliche Kälte rein und sie hatten ständig überall Feuer in großen Metallkanistern brennen zu lassen, doch wurde es kuscheliger. Während die Gang sich um die Feuertonnen verteilte und miteinander lachte, draußen der kühle Wind wehte und das Zusammengehörigkeitsgefühl stieg, saß Ilus mit dem Kopf nachdenklich angelehnt außen vor weiterhin auf der Holzkiste.

Wohl verstand sich Dexter gut mit Shark. Er sprach mit zitterndem Körper an: "Das Wetter wird auch immer verrückter. Selten, dass wir hier in Los Angeles mal so starke Minusgrade haben". Shark fiel auf: "Es schneet sogar". Fasziniert sahen alle aus den Fenstern. 

Auf seinem Weg zu Fuß wunderte Henry sich, als vor seinem Blickfeld ein weißer Punkt folg. Mit ihm blieb auch seine Katze stehen und sie sah ihn erwartungsvoll an. Er schob es auf seine Schlaflosigkeit und blinzelte stärker. Dann landete so ein weißer Punkt auf seiner Nase. Verwundert sah er hoch und entdeckte nicht nur, wie es vom Himmel schneite, sondern wie sich mehrere Flocken schon in seinen Haaren verfangen hatten. Beim weiteren Umsehen bemerkte er, dass er auf der Brücke stand. Schwer atmend sah er auf das Gitter und in den Fluss hinein. Danach ging er zögerlich weiter. Als er an der Lagerhalle ankam, wunderte er sich, dass es so still war. Man hörte sonst schon von draußen, wenn Maschinen - besonders die Drucker - liefen. Stark zurückhaltend hielt Henry die Hand auf den Türknauf. Am Ende stand schon jemand da und wollte ihn erschießen. 

Er riss sich zusammen und öffnete die Tür einfach. Schon hörte er Gespräche auf Zimmerlautstärke, sogar etwas leiser und das Knistern von Feuer. Er ging um die Ecke und blieb großäugig stehen. Dexter lächelte ihm ruhig zu: "Willkommen zurück. Gefällt es dir?". Zigz hing zwar immer noch in den Kabeln, doch schaffte er es zu grinsen: "Sieht zwar ein Bisschen aus wie bei Pennern, aber wir lassen es uns trotzdem gut gehen!". Dexter wand sich an Ilus: "Willst du ihn nicht wenigstens umarmen? Immerhin ist er für dich ohne Pause gesprintet". Ilus sah ihn etwas verloren an. Genau den Blick gab Henry schon die gesamte Zeit ab. Zuletzt gab Ilus doch nach, stand auf und trat ihm näher. Mit den Händen in der Hosentasche nuschelte er: "Danke...". Da warf sich Henry um seinen Hals: "Du bedankst dich obwohl es das Mindeste war, was ich tun konnte, nachdem ich dich angeschossen habe?! Bist du verrückt?!". 

Koi kroch aus seinem Loch und wies an: "Wäre ich du, würde ich da weg gehen". Beide sahen nach oben und Henry wurde rot. Ilus konnte sich kein Bild mehr aus einem Mistelzweig malen. Versteckt grinste Dexter und schlug heimlich hinter seinem Rücken mit Shark ein. "Was meinst du?", fragte Ilus. "Na Gott sei Dank", sank Koi wieder zurück. Kiki erklärte: "Du wirst dich doch wohl noch an die Tradition erinnern können. Wenn man unter einem Mistelzweig steht, muss man sich küssen". Nachdenklich neigte Ilus seinen Kopf: "Ach ja... Gut, dass du mich erinnerst. Wir sollten ein Warnschild aufhängen". Henry riss seine Augen auf und sah Ilus erschrocken an. Koi unterdrückte sich mit Zigz das Lachen. Dexters Blick sank leicht ein: "Wie jetzt...?". Kiki seufzte und ging los: "Ich stelle dann eins zusammen".

Ilus gesellte sich zurück an seinen vorherigen Platz und nuschelte: "Mach es dir bequem". Henrys Schultern lockerten sich und er trat weiter in die Halle ein.

Generation AntiheroWhere stories live. Discover now