1. Am Waldrand

623 24 15
                                    

Es gibt viele Arten von Lärm, aber nur eine Stille, hatte Luis immer wieder gehört. Von seinen Großeltern, in der Schule von den Lehrern, auf der Straße von den Nachbarn oder anderen Bewohnern des Dorfes. Doch er wusste, dass das nicht stimmte. Stille konnte angenehm sein, wenn sie wahrhaftig und ehrlich war. Dann konnte man sich in ihr suhlen und sich wünschen, sie würde niemals aufhören. Aber dann gab es da noch eine andere Stille, diese entsetzliche, diese peinliche, unerträgliche Stille, manchmal nur die Ruhe vor dem Sturm. Solch eine Stille herrschte gerade. Und er wusste, sie würde nicht lange andauern. Ein schrilles Kreischen, wie von einer über die Tafel gezogenen Kreide, dann ein Ausruf: „Nicht zerbrechen! Gib doch Ruhe!" Laut und durchschneidend tönte es die Treppe hinauf. Die Stimme klang ängstlich, beinahe panisch, und das, obwohl sie so tief war. Luis wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er kannte seinen Vater so gar nicht. Wünschte sich nur, dass die Ruhe, die er verlangt hatte, endlich einkehren würde. Ob es wohl später wieder an ihm hängen blieb, all die Scherben zusammenzukehren, die seine Mutter sicherlich gleich schlug? Wie absurd der Gedanke doch war. Aber dennoch – beim letzten Mal hatte sich niemand darum gekümmert. Die beiden Male davor auch nicht. Sein Vater hatte sich in das Ehezimmer eingeschlossen und seine Mutter war die Tage darauf jedes Mal nicht zuhause gewesen. Wohin sie sich dann immer verzog, das wussten sie alle nicht. Irgendwann hatte das angefangen, dieses ganze Chaos. Luis konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann seine Eltern das letzte Mal irgendetwas im Haus erledigt hatten. Wie abwegig ...

Er saß mit leerem Blick auf seinem Bett und versuchte, seinen Kopf abzulenken. Seine Augen waren starr auf das Weiß der gegenüberliegenden Wand gerichtet. Wenn er sich konzentrierte, konnte er sogar einige der kleinen Unebenheiten erkennen, welche üblicherweise unter dem Anstrich herausragten. Die Wände in ihrem Haus hatten so viele davon. Merkwürdig sah das aus ... wieso waren Tapeten eigentlich nicht glatt?

Im Erdgeschoss ein Stockwerk unter ihm zerbarsten große und schwere Gegenstände aus Porzellan auf dem Parkettboden und eine Frau schrie und zeterte, dass man glauben musste, ihre Stimme überschlüge sich bald. Wenn doch nur wieder Stille einkehren würde, und zwar wahrhaftige. Wie unnatürlich laut die Geräusche doch waren, viel zu laut wahrscheinlich für menschliche Ohren. Sicher würde er nie wieder richtig hören können, so laut waren sie.

Irgendwann sollten wir Teller und Vasen nachkaufen, dachte er, völlig durcheinander. Die Geräusche hallten von den Wänden wider und sorgten für eine unerträgliche Atmosphäre. Die Wände waren so weiß ... Er musste sich nur darauf konzentrieren, vielleicht ging dann alles weg. Hörte auf und kam nie mehr wieder. All die Geräusche, die Unordnung, der Streit. So weiß ...

Ein Wimmern ließ Luis' Augen in eine Ecke des Zimmers huschen. Dort saß sein kleiner Bruder und drückte sich mit tränenfeuchtem Gesicht die Hände auf die Ohren, um den Krach nicht hören zu müssen. Luis hasste den Anblick. Er hasste seine Mutter dafür, dass er diesen Anblick ertragen musste und vor allem hasste er sie, weil sie Edmund das antat. Er war doch noch ein kleines Kind! Seinen Vater traf keine Schuld, das wusste er, irgendwie, ganz tief in sich drin. Er, der nun unter all dem Chaos am meisten von ihnen allen litt, hatte immer sein Erdenklichstes getan, um den beiden Kindern Wutanfälle wie den gerade im Stockwerk unter ihnen stattfindenden so oft wie möglich zu ersparen. Aber er hatte es eben leider nicht immer geschafft. Und in letzter Zeit hatte das angefangen, dass auch ihr Vater immer öfter in schlechter Stimmung zu sein schien. Dass er streitlustiger wurde. Dass er nicht mehr so beharrlich versuchte, alles wieder in Ordnung zu bringen. Luis fragte sich, ob er einfach irgendwann aufgegeben hatte. Ob er eingesehen hatte, dass es letzten Endes sinnlos war, dass er und auch seine beiden Söhne einfach nichts tun konnten, um die Ausbrüche zu verhindern. Die Ausbrüche, die die Wände des Hauses wackeln ließen und die seinen kleinen Bruder zum Weinen brachten. Vielleicht hatte er eingesehen, dass letztendlich der eine Ausgang der Dinge, vor dem er sich immer am meisten gefürchtet hatte, unausweichlich war. Edmund aber durfte daran nicht zerbrechen, das war Luis vollkommen klar. Er selbst würde dafür Sorge tragen, wenn es sein Vater nicht konnte, das hatte er sich schon öfter geschworen. Er durfte das nicht ausbaden, das war einfach nicht richtig. Luis musste für seinen kleinen Bruder die schützende Wand sein. Nicht wie die durchlässigen Wände dieses Hauses. Eine Wand, die halten würde, wie auch die Wände einer Burgmauer halten würden und nicht bersten, nicht kaputt gehen unter dieser tosenden Naturgewalt da unten im Erdgeschoss. Nicht so, wie diese weißen Wände.

Die Toten SteineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt