2. Rätsel

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Einige Momente verharrte er wie erstarrt auf der Stelle. Der krallenbewährte Abdruck war tatsächlich enorm. „Ein Bär?", war sein erster Gedanke, aber er verwarf ihn sofort wieder. Dazu war zum einen die Fährte zu groß und zum anderen waren Braunbären in Großbritannien schon lange kein Thema mehr. Was immer diese Fußspur hinterlassen hatte, musste wahrlich ein riesenhaftes Vieh gewesen sein. Er beugte sich hinunter und besah sich die Umrisse genauer. Die Pfote, die den Abdruck hinterlassen hatte – sofern es sich denn um eine handelte – war definitiv viel zu lang und groß, um zu irgendeinem Luis bekannten Wesen zu gehören. Was also hatte es mit diesem Ding auf sich? Hatte sich da jemand einen Scherz erlaubt? Oder in den Wäldern treibt sich tatsächlich eine unbekannte Bestie um, ulkte er in Gedanken, schüttelte dann aber sofort den Kopf, um sich selbst zur Vernunft zu bringen. Wie auch immer ... wieso hat das hier noch niemand bemerkt? Die Idee mit dem Streich schien ihm viel wahrscheinlicher als ein echtes Tier, er wollte es sich aber selbst nicht ganz eingestehen. Farmer Thomas musste es auf jeden Fall erfahren, ob er wollte oder nicht, befand er schließlich und wirbelte bereits auf dem Absatz herum, um ins Haus zurück zu spurten, als er die restlichen Spuren entdeckte. Die Fährte des mutmaßlichen Untiers führte eine ganze Weile am Rande des Ackers entlang und verschwand dann zwischen den Bäumen. Mindestens fünf oder sechs der Spuren waren zu sehen. Und die Abstände zwischen den einzelnen Abdrücken waren beinahe noch beeindruckender als ihre Größe selbst. Schlagartig wurde Luis klar, warum er zuerst nur eine davon bemerkt hatte. Sie lagen alle so weit auseinander. Ein Tier von solchen Ausmaßen konnte doch unmöglich lange unentdeckt bleiben. War da etwas aus einem Zoo ausgebrochen? Wie konnte es sein, dass es solch mächtige Abdrücke hinterlassen hatte, ohne dass irgendjemand zumindest etwas von dessen Präsenz bemerkte? Aber es ist ja vermutlich gar kein Tier, sondern bloß ein dummer Witz, holte sich Luis selbst zum wiederholten Male auf den Boden der Tatsachen zurück. Es ärgerte und belustigte ihn gleichzeitig ein wenig, dass er sich beinahe wünschte, es würde sich durchaus um etwas Spannenderes als einen seltsamen Scherz handeln. Sicherlich war es unvernünftig und zeugte nicht gerade von Reife, sich eine solche Gefahr herbeizusehnen. Luis schalt sich im Geiste für seine lebhafte Phantasie. Eine Frage jedoch blieb, wie er es auch drehte und wendete: Was für eine Teufelei war es gewesen, die da so ungeniert durch den Acker von Farmer Thomas gepflügt war? Luis blickte in Richtung der Stelle, an der die Bestie scheinbar im Wald verschwunden war. Ihm fröstelte. Wäre es eine gute Idee, jetzt dort hinein zu gehen, um die Wege des mysteriösen Etwas zu ergründen? Vielleicht herauszufinden, wohin es gelaufen war und worum es sich überhaupt handelte? Vermutlich nicht ... Aber auf der anderen Seite ... Er musste unwillkürlich grinsen. Die Idee, voller Verwegenheit alleine in den Wald zu marschieren und dem Untier in den Weg zu treten, hatte etwas. Erneut musste Luis seine Gedanken zur Ordnung rufen. Scheinbar bin ich wirklich ziemlich müde. Dann fiel ihm aus dem Augenwinkel ein seltsamer, silberner Schimmer ins Auge. Er sah zurück auf die Vertiefung. Der plattgedrückte Boden war noch feucht. Ein eiskalter Schauer jagte ihm über den Rücken und mit einem Mal schien ihm sein Vorhaben, in den Wald zu rennen gar nicht mehr so interessant. Wer immer das war, muss noch in der Gegend sein! Und wenn es kein Tier war, sondern in der Tat das Werk von Menschen, dann fanden die es sicherlich überhaupt nicht lustig, wenn sie bei ihrer Schandtat entdeckt würden. Am Ende handelte es sich wieder um einen dieser Irren. Luis lugte ein letztes Mal verstohlen auf die Spur, dann ging er in zügigem Schritt und ohne sich noch einmal umzudrehen zurück ins Dorf und in das Haus seines Vaters, wo er sich in seinem Zimmer sofort unter die inzwischen getrocknete Decke kuschelte und die Wärme genoss, die sich schnell wieder in seinen Gliedern ausbreitete. Das Rätsel um die gigantischen Tierspuren würde bis zum Morgen warten müssen.

Luis schlief trotz der gestauten Hitze in seinem Zimmer sehr lang und selbst, als er wach war, blieb er noch ein wenig in seinem Bett und starrte auf seinen Handybildschirm. Es war Samstag und er war nicht in der Stimmung, sofort groß etwas zu unternehmen. Seine Laune war generell nicht die beste. Auch wenn er es nicht ganz eingestehen wollte, machte der Traum vom Streit seiner Eltern ihm gehörig zu schaffen. Und dann war da noch die Sache mit den Fußspuren. War ihm der Fund in der Nacht noch sehr aufregend vorgekommen, betrachtete er das Ganze nun weitaus nüchterner. Irgendeine Erklärung würde es sicherlich geben, ganz gleich, wie sie lauten mochte. Trotzdem wollte er es Farmer Thomas sobald wie möglich berichten, und sei es nur, um den Mann auf den Schaden in seinem Boden aufmerksam zu machen. Luis klaubte schließlich seine Anziehsachen zusammen, riss das Zimmerfenster weit auf (was normalerweise nur dazu führte, dass es im Haus noch wärmer wurde, als es ohnehin schon war, aber einen Versuch war es ja wert) und marschierte mit weitaus weniger Vorsicht als noch in der Nacht die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Sein Vater war nicht in der Küche und auch nicht im Wohnzimmer. Er war nicht im Hausflur und im Garten erst recht nicht. Als Luis sah, dass auch seine Straßenschuhe an Ort und Stelle standen, wurde ihm klar, dass er wohl immer noch schlief. Wie um diese Erkenntnis zu unterstreichen, hörte er das Bett im Zimmer seines Vaters laut quietschen. Sein alter Herr hatte sich wohl gerade von einer Seite auf die andere gewälzt. Luis lächelte müde und pflanzte sich auf die mini-kleine, beigefarbene Wohnzimmercouch gegenüber dem Fernseher, um ein wenig durch die gläserne Balkontür in den Garten zu stieren. Der Fernseher war so ziemlich das einzige Objekt im Haus, das Luis als modern beschreiben würde. Alle anderen elektronischen Geräte und auch die Möbel und restlichen Haushaltsutensilien hatten etwas Altmodisches, ja geradezu Antikes. Aber das gehörte im Dorf wohl zur Tradition, die meisten Häuser hier sahen von innen ungefähr gleich aus. Backsteinwände, wenige Fenster, kleine Kamine und alte Holzbalken, -stufen und -möbel in jedem Stockwerk - sofern es denn mehrere zur Auswahl gab. Die Küchen glichen gemeinhin alten Bauernstuben - was sie ja irgendwie auch waren - und die Betten in den Zimmern hätten in jedes Museum besser hinein gepasst. Zumindest im Vergleich zu denen, die er aus Pickering kannte, wie alles andere auch. Luis starrte weiter in den Garten und hörte alsbald laute Schritte die Treppe hinab poltern. Sogleich erschien sein Vater am Fuß der Stufen und stütze sich mit einer Hand am Treppengeländer ab, während er sich mit der anderen den Kopf hielt. Luis machte erst gar nicht den Versuch, ein Gespräch anzufangen. Dafür würde er noch einige Stunden warten müssen, bis sich der Mann wieder erholt hatte und selbst dann bekam er oft nur einsilbige Antworten. Luis war seinem Vater deshalb nicht böse, er wusste, dass dieser ihn sehr gerne hatte. Er wurde auch niemals wütend, noch war er unfreundlich zu seinem Sohn. Nein, ihm war wohl einfach die ganze Welt nach der Trennung von Luis' Mutter ein Stück weit egaler geworden, da der Schmerz und die Trauer über die verlorene Liebe alles andere betäubten. Luis konnte sich kaum ausmalen, wie schlimm das für seinen Vater sein musste, selbst nach sieben Jahren noch. Für ihn war es ja schon eine kleinere Katastrophe gewesen, die eigene Mutter zu verlieren. Nicht richtig verlieren, sie war ja nicht gestorben, aber dennoch irgendwie ... zumindest, wenn man es auf emotionaler Ebene betrachtete. Während er darüber nachdachte, ob es Sinn hatte, dem grummelnden, bärtigen, verkaterten Etwas, das da vor ihm stand, später von den seltsamen Spuren in Farmer Thomas' Acker zu berichten, schlurfte sein Vater von der Treppe aus in Richtung Küche, sodass er einmal quer durch Luis' Sichtfeld marschierte. Mit seinen hängenden Schultern, den zerzausten Haaren, dem bleichen Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und seinen sporadisch übergeworfenen Klamotten machte er einen elenden Eindruck. Dann betrat er die Küche und verschwand hinter der Türe. Es klimperte und klirrte einige Augenblicke lang, bevor er mit einer geöffneten Bierflasche wieder heraus kam und sich auf einen Ledersessel zu Luis' rechter Seite fallen ließ. Manche Menschen sollen ja zum Frühstück Tee trinken, dachte Luis und überlegte dann, wann er das Getränk wohl zum letzten Mal in ihrem Haushalt gesehen hatte. So saßen sie dann einige Minuten lang da, bis Luis sich aufraffte und befand, dass es an der Zeit war, die Dorfgemeinschaft von seiner seltsamen Entdeckung zu unterrichten. Er schlappte in die Küche, klaubte eine Scheibe Brot aus dem Brotkorb, auf die er lieblos den Rest des Bauernschinkens klatschte, den die Morley-Familie ihnen zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte (Was für eine Freude!) und machte sich nach einigen Bissen auf, den lebensfeindlichen Temperaturen, die außerhalb herrschten, entgegenzutreten.

Die Toten SteineWhere stories live. Discover now