8. Drei Steine

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Der Wind pfiff unangenehm kühl über die Felder hinweg und peitsche Luis kleine Regentropfen direkt ins Gesicht. Sie rannen an seiner Stirn herunter, über die Wangen bis hin zu seinem Kinn, von dessen Spitze aus sie zur Erde hinabfielen. Er bemerkte es kaum. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die Szenerie vor ihm gerichtet. Um jede der Spuren auf Farmer Thomas' Acker hatte die Polizei sorgfältig ein paar Streben aufgestellt, und an diesen befestigt zuckten rot-weiße Plastikbänder, durch den herannahenden Sturm aufgewirbelt, wild hin und her. Sie gaben ein Geräusch von sich, als würde ein Boxer unablässig und in schneller Folge auf ein Blatt Papier einschlagen. Ungefähr zehn dieser Gebilde führten so von der Siedlung weg in Richtung der Bäume, die den Beginn des nördlichen Waldes markierten. Auf der anderen Seite des Feldes, in der Nähe des Hauses seiner Großeltern, um das geschäftig Menschen herum wuselten, entdeckte er noch einmal genauso viele. Auf dem Acker verteilt lagen, zwischen allerlei Kisten und hastig aufgebauten Klapptischen und –stühlen, verschiedene, für Luis unidentifizierbare Werkzeuge und Utensilien. Sie hatten wohl die vergangenen Tage vor allem dem Zweck gedient, den Ursprung des seltsamen Musters zu erkunden – auch, wenn für ihn nicht klar erkennbar war, was genau mit den einzelnen Gegenständen bezweckt werden sollte. Dennoch stieß er zufrieden die Luft aus.

Na, wenigstens so viel haben sie gemacht, seufzte er in Gedanken. Dann trat er näher. Die Spuren sahen noch genauso aus wie an dem Tag, als er sie entdeckt hatte. Niemand hatte sie angerührt, stellte er mit Genugtuung fest. Nicht Farmer Thomas, von dem er befürchtet hatte, er würde die Löcher sofort mit Erde zukippen und auch nicht die anderen Dorfbewohner oder die Polizei, die scheinbar mit mehr Sorgfalt vorging, als zu vermuten gewesen wäre. Die Frage drängte sich Luis jedoch alsbald auf, wie er da so stand, wo denn die Forensiker alle waren. Hatten sie sich seit seinem Wutanfall am Sonntag überhaupt weiter mit den Spuren beschäftigt? Vermutlich nicht ... aber es war jetzt auch egal. Des Rätsels Lösung hatte sich ihm offenbart und er beabsichtigte nicht, zu warten, bis eventuell jemand kam, um den Preis für sich zu beanspruchen.

Es gibt keine Bestie, sagte er sich, um seine langsam stärker werdende Aufregung zu unterdrücken. Es gibt keine Märchen und Kobolde und Wichtel und keine riesigen Monster in diesem Wald. Alles gut, du siehst dir einfach nur das Muster an.

Er duckte sich unter einer der Absperrungen hindurch und lugte verstohlen zu dem Abdruck hinunter, der nun genau vor ihm im Boden prangte. Bis darauf, dass dieser nun vom Regen nass war, konnte Luis auf Anhieb nichts Ungewöhnliches feststellen. Daher ging er in die Hocke, um das Mysterium genauer zu studieren. Bei dieser Bewegung kam aus dem Inneren seines Magens plötzlich ein unvermittelt lautes Knurren. Bestürzt fiel ihm ein, dass er überhaupt nichts gefrühstückt hatte, aber das konnte er ja später nachholen. Er schüttelte sich kurz und beugte sich noch weiter herab.

Obwohl sich Luis mit Fährten kaum auskannte, war er sich nach eingehender Betrachtung sicher, dass die Spur genau so aussah, wie sie aussehen musste. Zumindest stellte er sich eine solche Physiognomie vor, wenn ein schweres Gewicht auf nachgiebigen Untergrund traf. Etwas tiefer hätte der Abdruck vielleicht sein können, aber was wusste er schon davon? Er runzelte die Stirn. Ein leises Flüstern der Stimme seines Bruders in seinem Hinterkopf, verlockend und Abenteuer verheißend, wurde stetig lauter und dann nach kurzer Zeit wieder leiser, weil er es genervt ausblendete. Wie zum Teufel sollte er hierbei vorgehen, um einen Hinweis auf den Verbleib der Verschwundenen zu entdecken? Er sah sich rasch um, erspähte eine vom Regen bereits ausreichend aufgeweichte Stelle und stapfte mit seinem rechten Fuß einen absolut tadellosen Abdruck in den Acker. Auch zu diesem beugte er sich herunter, nur um festzustellen, dass er nicht feststellen konnte, ob zu dessen größeren Verwandten ein signifikanter Unterschied bestand. Frustriert schnaubend richtete sich Luis wieder auf. Sein Hemd war vor allem am Rücken bereits ordentlich durchnässt, seine Haare hingen ihm glitschig ins Gesicht und an seinen Sneakern klebten große Brocken Dreck. Der Nieselregen war jetzt schon kein Nieselregen mehr, er war stärker geworden und wuchs sich zu einem einigermaßen ordentlichen Unwetter aus. Selbst vor dem Haus seiner Großeltern konnte Luis keine Menschen mehr erspähen, sie alle hatten sich vermutlich ins Innere verzogen.

Die Toten SteineDove le storie prendono vita. Scoprilo ora