10. Unruhe

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Luis' Großvater sah ihn mit strengem Blick an. Die Falte zwischen seinen Brauen war noch tiefer als gewöhnlich und sein Blick bohrte sich unangenehm durch ihn hindurch, sodass er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Er strich sich langsam mit Daumen und Zeigefinger, an denen jeweils dicke, goldene Klunker funkelten, über seinen Schnauzer. Dann begann er, sich in Bewegung zu setzen und vor der riesigen Glasscheibe im Wohnzimmer, die den Blick nach draußen auf die Äcker freigab, hin und her zu wandern.

„Das war unvernünftig", fing er an. „Du kannst nicht einfach jemandem, den du nicht kennst, solche Details verraten. Auch wenn diese Alice sagt, dass er vertrauenswürdig ist."

„Das ist nicht irgendeine Alice!", gab Luis verletzt zurück. „Ich habe euch doch schon mal von ihr erzählt, sie ist meine ..." Er wusste einen Moment nicht, welches Wort er verwenden sollte, dann entschied er sich dafür, den Satz noch einmal von vorne zu beginnen: „Ich kenne sie lange und ich vertraue ihr. Sie würde mir niemals absichtlich schaden."

„Ah, und da haben wir auch schon den Haken an der Sache, nicht wahr", feixte sein Großvater, dem Luis' kurzes Zögern selbstverständlich aufgefallen war. „Sie würde dir niemals absichtlich schaden, aber wer dieser Typ ist, weißt du trotzdem nicht, oder?"

„Trent Harris, ehemaliger Militärpolizist, invalide aus Afghanistan zurückgekehrt, seither wohnhaft in Chelmsford", spulte Luis mechanisch herunter.

„Ja, ja", antwortete Gramps und winkte dabei genervt ab, „aber das meinte ich nicht. Ich frage mich, was will dieser Mann? Warum kommt er freiwillig hier her? Hast du Geld, um ihn zu entlohnen? Hast du überhaupt das Geld, um ihm die Fahrt zu bezahlen?"

Jetzt war der Augenblick gekommen. Luis wusste genau, was er wollte, warum er zu seinen Großeltern gegangen war und sich in dieses antik anmutende Wohnzimmer gesetzt hatte, dass er ansonsten nicht im Traum betreten würde. Er hasste die kitschigen Puppen und Porzellanfiguren, die überall herum standen und hingen, er hasste die altmodische Ästhetik der Möbel und des Teppichs, den muffigen Geruch nach nassem Hund, der nur in diesem Zimmer und sonst in keinem Teil des Hauses herrschte und dem – resultierend aus Pfusch am Bau – an dieser Stelle aufsteigenden Grundwasser geschuldet war, die ewig nervtötend tickende Pendeluhr an der Wand, er mochte es einfach nicht. Nur das große Fenster hin zum Garten gegenüber der Eingangstür mutete einigermaßen modern an, aber das riss es am Ende auch nicht raus. Nein, Luis war nur aus einem einzigen Grund hierhergekommen. Er brauchte Geld, um Harris zu bezahlen. Und Geld hatten seine Großeltern reichlich, auch, wenn es außer ihnen niemand wusste, nicht Mary, nicht Cole, kein einziger Dorfbewohner. Aber er durfte jetzt noch nicht aus der Deckung kommen, sonst würde er sich verraten. Hoffentlich spielten sie das Spiel mit.

„Ich dachte, ich habe ja schon einiges angespart. Für die Uni", murmelte er mit meisterhaft gemimter Unsicherheit vor sich hin. „Wenn ich davon was nehme, könnte ich ..."

„Das kommt überhaupt nicht infrage!", rief seine Großmutter, die auf dem Ledersofa zu seiner Linken saß und gerade noch wie verbissen mit Stricken beschäftigt gewesen war – eine Arbeit, der sie seit Edmunds Verschwinden ausdauernd und unermüdlich nachging, als würde ihr Leben davon abhängen. Zahlreiche Schals, Socken und ähnliche Kleidungsstücke, die überall im Haus verteilt lagen, bezeugten das. Vermutlich, so dachte ihr Enkel, wollte sie sich einfach so gut, wie es nur ging, ablenken. Mit ihren Zwischenruf allerdings tat Luis' Großmutter genau das, was er sich erhofft hatte. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass sie auch Gramps überzeugte. Aufgeregt mit dem Armen wedelnd, sodass ein gelbes Wollknäuel beinahe von ihrem Schoß herab zu Boden fiel, plapperte sie weiter in Richtung ihres Mannes: „Der Junge hat jahrelang hart dafür gearbeitet, in die Stadt ziehen zu können. Da kann er jetzt nicht einfach alles zum Fenster rauswerfen, nur weil er sich so etwas in den Kopf setzt."

Die Toten SteineWhere stories live. Discover now