7. Die Wolken werden dichter

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Luis wischte geistesabwesend mit seinem rechten Daumen über das Handy-Display. Die Fettschlieren, die er dadurch hinterließ, verliefen ineinander, vermischten sich und bildeten eigenartige Muster auf der glatten Oberfläche. Durch die ständige Berührung erlosch der Bildschirm nicht, sondern zeigte Luis genau dasselbe wie schon seit einigen Minuten, nämlich einen WhatsApp-Kontakt samt zugehöriger Nummer, welchen ihm Alice gestern Nacht noch geschickt hatte – zusammen mit der Nachricht: „Der Typ heißt Trent, sag ihm, dass du ihn über mich kennst und dass du seine Hilfe brauchst. Ist wie gesagt nur eine fixe Idee gewesen, aber vielleicht kann er ja helfen. Wenn er nicht antwortet, gib mir Bescheid."

Gib mir Bescheid ... Als ob ich den jetzt einfach so anschreibe, dachte Luis. Außerdem, was soll ich ihm denn erzählen? Hi, ich bin Luis, du kennst mich nicht, aber könntest du mir eventuell bei einem Problem mit meinem verschwundenen Bruder helfen?

Die netteste Antwort, die er sich darauf vorstellen konnte, war die Frage dieses Kerls, was ihn das anginge. Und das berechtigterweise, wie er zugeben musste. Er hatte auch dutzende weitere unbeantwortete Chats, von Bekannten, von ehemaligen Mitschülern, von Freunden aus Pickering, die sich erkundigten, wie es ihm ging, die ihm Kraft wünschten, die ihm sogar obskure und meist blödsinnige Hinweise darauf gaben, wo sein Bruder sein könnte. Brad, den er schon seit der ersten Klasse kannte, hatte ihm sogar kurz am Telefon erzählt, er hätte Ed gesehen, war sich dann aber doch nicht sicher genug gewesen, um Luis das Go zu geben, damit zur Polizei zu gehen. Ein kleines bisschen Hoffnung, und zack, direkt wieder zerstört. Und Charlie, sein „bester Kumpel" hatte ihm nur ein einfaches ‚Hey, wird schon wieder' um die Ohren gehauen, nachdem er die Vermisstenmeldung in den Nachrichten mitbekommen hatte.

Klasse, Charlie ...

Ironischerweise sorgten die ganzen Zusprüche nur dafür, dass Luis immer weniger Kraft aufbringen konnte, um all diese Nachrichten zu beantworten. In der vergangenen Nacht hatte er wieder von dem leeren Raum und dem kleinen Kind, dieser jüngeren, gruseligen Version seines Bruders geträumt. Zwar hatte er keine solche Tortur durchstehen müssen, wie noch zwei Tage zuvor, nachdem er aus York heimgekommen war, allerdings war er zum wiederholten Male schweißgebadet aufgeschreckt und im Anschluss nur in einen unruhigen Schlaf zurückgesunken. Mittlerweile wusste er, von was für einem Zimmer er da phantasierte. Im Haus seiner Großeltern hatte er es wiedererkannt. Es war Eds Zimmer, nur dass es im Traum völlig leergeräumt und von sämtlichem Mobiliar befreit war. Einzig der gespenstische Vorhang und Ed selbst begegneten ihm dort, wenn er schlief. Luis fragte sich, was ihm wohl ein Traumdeuter dazu erzählen würde, wenn er einem von seinen nächtlichen Mahren berichtete.

Er stand auf und begab sich in das kleine Badezimmer direkt neben seinem eigenen Raum – dort, wo die Tür war, phantasierte er sich im Traum immer den Eingang zu Edmunds Zimmer zusammen – und hob müde den Kopf, um sich selbst im Spiegel zu betrachten. Seine Augenringe waren inzwischen nicht mehr zu übersehen. Wenn er sich anstrengte, konnte er sogar abzählen, wie viele verschiedene Schattierungen sich untereinander angesammelt hatten. Alles in allem sah er, so wie er da stand – unausgeschlafen und unhergerichtet – ziemlich grauenhaft aus. Wenn Alice ihn jetzt sehen würde, würde sie es sich vermutlich noch einmal überlegen, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor. Er beschloss, bei ihrem nächsten Treffen ein wenig Schminke unter den Augen aufzutragen, um nicht gar so fürchterlich daherzukommen – auch wenn ihn die meisten im Dorf und sicher auch einige seiner Kumpels in Pickering dafür ausgelacht hätten. Dieses gewisse Maß an Eitelkeit war Luis gerne bereit, sich selbst und allen anderen einzugestehen. Und so wie er Alice kannte, würde sie das ohnehin eher lustig und süß finden als lächerlich. Alice ... Er hatte lange überlegt, wieso sie auf einmal so einen Sinneswandel gehabt und ihm diesen dubiosen Informanten, den sie da offenbar kannte, nähergebracht hatte. Was will sie mir damit sagen? Was soll ich denn mit diesem Kerl bitte?

Die Toten SteineWhere stories live. Discover now