5. Der Informant

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Ziemlich genau 212 Meilen entfernt saß Trent Harris am Montagmorgen auf einer kleinen, hölzernen Parkbank in Chelmsford, einem hübschen und entsprechend teuren Vorort von London, und ruhte sein lahmes Bein aus, während er ein einschlägiges Schmierblatt auf der Suche nach etwas Interessantem durchblätterte. Fündig wurde er dabei zwar in der Regel nicht, aber das wiederkehrende Rascheln der bunt bedruckten Seiten, wenn er sie umblätterte, beruhigte ihn ungemein. Ebenso wie das rhythmische Flügelschlagen der Tauben. Zahlreiche dieser grauen Kacke-Schleudern flatterten auf der Straße umher und ab und zu griff der auffällig breite, grimmige Mann in ein kleines Säckchen, dass er neben sich platziert hatte, um ihnen einige Körner hinzuwerfen. Die Vögel stürzten sich dann in militärischem Eifer auf das Futter, gurrten um die Wette und verleiteten die meisten vorbeispazierenden Passanten dazu, einen großen Bogen um die Szenerie zu machen. Harris war sich nicht sicher, ob das an den Tieren lag, oder an ihm, aber es kümmerte ihn nicht. Die Tauben waren einfach. Warf man ihnen etwas zu fressen vor den Schnabel, blieben sie, trat man mit dem Fuß nach ihnen, flogen sie davon. Ganz einfach. Viel einfacher als die Menschen, von denen so viele naserümpfend die Straßenseite wechselten, um nicht zu dicht an der grün lackierten Bank mit dem unheimlichen Kerl und den hässlichen, alles vollscheißenden Kreaturen vorbeischleichen zu müssen. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren die einfachen Wirkungsmechanismen dieser Stadtvögel für Harris bei weitem nicht so interessant gewesen, wie die durchaus komplexere Beschaffenheit menschlicher Geschöpfe. Doch diese Zeit war vorbei. Spätestens seitdem klar geworden war, dass er nie wieder richtig würde laufen können. Seitdem klar geworden war, dass ein Mensch es gewesen war, der es verbockt hatte, ein bösartiger Mensch, der sein Dasein der Lächerlichkeit preisgegeben und ihn zum vorzeitigen Ruhestand als Invalide verdammt hatte. Der neue Harris war ein Zyniker und als Zyniker war es ihm egal, was die Menschen um ihn herum zu schaffen hatten. Er betrachtete sie allenfalls mit mäßigem Interesse, welches sich meist in Geringschätzung verwandelte, wenn er zufällig von seiner Parkbank aus mitbekam, welcher Natur ihre Probleme und Sorgen waren. Die meisten waren so trivial und bedeutungslos, dass er hätte lachen können, wäre ihm seit dem Vorfall vor zwei Jahren jemals danach zumute gewesen.

Harris war 34, hoch gewachsen, gut bepackt mit Muskeln und einem ewig kratzigen, bereits im vergleichsweise jungen Alter grau melierten Drei-Tage-Bart. Sein Gesicht und seine Statur versteckte er unter einer tief in die Stirn gezogenen, dunkelblauen Kappe und einem schweren, dunkelgrünen Mantel – beide wirkten selbst im diesigen Tageslicht des typisch englischen Regenwetters noch beinahe schwarz. Wenn er es sich recht überlegte, so dachte Harris, dann waren es wohl tatsächlich nicht die Tauben, die die Menschen dazu brachten, einen Umweg einzuschlagen, wenn sie die Bank erblickten. Er blätterte erneut in der Zeitung und überflog einige der Überschriften. Die Rubriken Politik und Wirtschaftübersprang er dabei getrost. Er bekam seine Pension von der Armee, seine Invalidenrente sozusagen, sie war hoch genug, dass er sich in diesem Vorort eine kleine Wohnung leisten konnte und trotzdem nicht verhungerte, das musste reichen. Mehr interessierte ihn nicht. Daher blätterte er mit bescheidenem Enthusiasmus weiter. In der Rubrik Regional bestand meist die größte Chance darauf, etwas Ansprechendes zu entdecken. Und tatsächlich blieben seine wachen, aber notdürftig aufmerksamen Augen an einem dreispaltigen Artikel hängen, der auf der letzten Doppelseite des Regio-Teiles unten rechts platziert war. Cropton – Zwei Jugendliche verschwunden. Einwohner verdächtigen Waldwesen, stand da in fetten, schwarzen Druckbuchstaben. Harris blies amüsiert ein wenig Luft durch die Nasenlöcher. In den nördlichen Regionen gab es so einige seltsame Gegenden mit noch seltsameren Bewohnern. In vielen Teilen des Gebietes war Aberglauben bis heute weit verbreitet und gerade ältere Menschen hielten nach wie vor an den eingerosteten Geschichten über Wichtel, Feen und sonstigen Unfug fest. Das fand er zwar einigermaßen belustigend – aber warum waren seine Augen gerade an dieser Zeile hängen geblieben? Er grübelte einen Moment, dann fiel ihm wieder ein, dass er vor einiger Zeit mal jemanden gekannt hatte, der aus dieser Gegend kam. Das war vor dem Unfall gewesen. Bevor er beschlossen hatte, sich in sich selbst zurückzuziehen. Als er noch ein äußerst umgänglicher Mensch gewesen war ... Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie die Ortschaft hieß, in der die Person aufgewachsen war, aber dass sie in der Nähe der North-York-Moors lag, wusste er noch. Und den Namen des Dorfes Cropton hatte er sich auch aus irgendeinem Grund gemerkt – obwohl seine Bekanntschaft dort ganz sicher nicht wohnte, zumindest daran erinnerte er sich.

Die Toten SteineWhere stories live. Discover now