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„Wenn es nicht geht, packst du deine Sachen und kommst rüber, okay?"

„Ja." Mein Bruder verlagerte sein Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß, schaute betrübt unter sich. Ihm ging es nicht gut, wenn er an seinen Unterricht dachte. Wir würden getrennte Wege gehen und mit der Angst leben müssen, dass jemand vom Jugendamt in der Schule wartete und mit uns reden wollte. Ich vermutete, dass man Miriam bereits kontaktiert hatte.

„Was ist los, Großer? Sprich mit mir", bat ich und versuchte, von unten in sein Gesicht zu schauen. Das Unwohlsein war nicht zu übersehen. Er verbarg es nicht. „Raus mit der Sprache."

Alexander verzog das Gesicht. „Ich will nicht von dir weg, Mama."

Das war zu erwarten.

Mein Bruder war kaum von mir zu trennen. Seine Angst war in den letzten Tagen immer größer geworden, realer. Er hatte begriffen, dass unsere Trennung quasi vor der Tür stand und man nur noch mit den Fingern schnipsen musste. Wir würden nicht mehr lange zusammenleben können. Mir zerbrach das genauso das Herz wie ihm. Daran gingen wir beide kaputt, dennoch mussten wir unserem Alltag wieder nachgehen.

„Bleib zumindest bis mittags, dann hole ich dich ab und du bleibst bei mir, bis Valentin uns abholt."

„Und wenn bis dahin jemand kommt und mich mitnimmt?"

„Das wird nicht passieren. Ich sitze oben am Fenster und werde sehen, wenn du den Schulhof verlässt. Niemand wird dich mitnehmen, ohne vorher an mir vorbeigekommen zu sein", versprach ich ihm. „Du bist mein größter Schatz, Alex. Ich werde dich mit meinem Leben beschützen."

Daraufhin zog ich meinen Bruder in meine Arme und drückte ihn kurz an mich. Ich sprach ihm meine Liebe aus, küsste ihn auf den Kopf. Es war egal, wer uns sah. Unsere Geschichte war offengelegt worden. Wir würden nun sehr viele Augenpaare auf uns ziehen und uns damit auseinandersetzen müssen, bis über die ganze Geschichte Gras gewachsen war.

Schließlich lösten wir uns voneinander und er kehrte mir den Rücken zu, um zu seiner Schule zu laufen. Es war ein glücklicher Zufall, dass Mike schon da war und Alexander bei ihm sein konnte. So hatte er jemanden an seiner Seite, der nicht über ihn redete und die Wahrheit verdrehte. Auf seinen besten Freund konnte er zählen.

Alexander drehte sich nach einigen Metern nochmal herum und sah nach mir. Wir winkten uns zu. Ihn beruhigte, dass ich noch da war und ihm nachschaute. Er brauchte gerade jede Art von Unterstützung. An ihm nagte der Verlauf besonders stark, denn ihn betraf es am Ende am schlimmsten. Er würde mich verlassen müssen, woanders hinziehen und eine neue Schule besuchen. Sein Leben würde sich wandeln. Wenn er zu unseren Verwandten kam, wusste ich, würde es ihm gutgehen und er würde glücklich werden. Dort würde er alles verarbeiten können.

Ich wartete, bis er beim Schulgebäude war, dann drehte ich mich herum, lief selbst zu der gegenüberliegenden Schule. Jeder Schritt war eine Qual. Die Jugendlichen hatten sich untereinander informiert, sich die Videos zugeschickt und sicherlich hunderte Gerüchte in die Welt gesetzt, die mit der Wahrheit nicht übereinstimmten. Mit all dem würde ich mich auseinandersetzen müssen. Die Tage waren zwar gezählt, da ich die Schule abbrechen würde, sobald Alexander seine Schule verlassen musste, doch solange würde ich mich jeden Tag den Blicken stellen.

Als ich an dem Schultor meiner Schule ankam, legte man mir einen Arm um den Hals und zog mich zu sich. Kilian verlor kein Wort darüber, redete mit jemand anderem, während er mich bei sich behielt. Seine Augen ruhten nur flüchtig auf mir, bevor er sich ganz seinem Gesprächspartner widmete und seine Umarmung lockerte, sodass es nur noch freundschaftlich wirkte. Dabei wusste jeder, dass wir uns nicht sehr nahe standen und ich nicht an Unterhaltungen teilnahm.

Warum leben?Where stories live. Discover now