Epilog

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2019

Die Regentropfen hinterließen ein dumpfes Geräusch auf dem Regenschirm, den ich über mir hielt. Wasser bahnte sich seinen Weg an meinen Schuhen vorbei, während ich den Grabstein meines Vaters ansah und beobachtete, wie jeder einzelne Tropfen darauf aufschlug. Wieder ein Geburtstag ohne den Mann, den ich über alles liebte. Noch ein weiteres Jahr ohne meinen Vater.

Alexander stand neben mir, hielt meine Hand und in der anderen einen eigenen Regenschirm. Er war groß geworden und würde bald größer als ich sein. Es fehlten nur noch ein paar Zentimeter. Seine Kindheit hatte er nicht mehr gefunden, war immer mehr erwachsen gewesen. Unsere familiäre Situation hatte uns beiden die wichtigsten Jahre genommen, die man als Kind und Jugendlicher benötigte. Wir kamen damit zurecht, gingen beide zu Therapien. Alexander seit er damals zu unseren Verwandten gezogen war, und ich hatte keine andere Wahl gehabt.

Frische Blumen standen in der Vase, die seit Jahren ihren Platz auf dem Grab hatte. Die bunten Blüten passten nicht zu dem tristen Herbstwetter. Der laute Regen, die wenig bunten Blätter und immer leerer werdenden Baumkronen.

Und dennoch. Obwohl der Todestag heute war und wir gleich zwei verstorbene Familienmitglieder besuchten, lächelte ich. Ein Lächeln, das meine Augen erreichte und offenbarte, dass es mir gut ging und ich auf dem besten Weg war. Keine Klinge , die ich über meinen linken Arm zog. Keine Selbstmordgedanken . Kein selbstzerstörerisches Verhalten oder ebensolche Entscheidungen. Das hatte alles aufgehört.

„Danke, Papa", sprach ich leise. Alexander drückte meine Hand und sah mich an. Es war das dritte Jahr infolge, dass ich vor dem Grabstein meines Vaters stand und mich bedankte. Früher hatte ich mich immer entschuldigt, weil ich mit ihm unbedingt zum Eiscafé hatte gehen wollen, was unser Leben komplett zerstört hatte. Ich hatte Unmengen an Schuldgefühle in mir getragen, mir Vorwürfe gemacht und mich verachtet. In meinen Augen war mein Bruder der einzige Grund gewesen, weshalb ich leben sollte.

Heute war das anders. Seit ich Alena aus Miriams Wohnung geholt und begriffen hatte, dass mein Vater mir eine Zukunft geschenkt hatte, war meine Einstellung zum Leben langsam verändert worden.

„Hast du Miriam schon von Alena erzählt?", wollte Alexander wissen.

Ich schüttelte den Kopf, belog ihn, aber ich wollte ihn nicht mit Miriams Reaktion belasten. Er hatte in seinen jungen Jahren schon viel zu viel erlebt und mitgemacht. Der Schmerz war für ihn selbst unbeschreiblich gewesen und ich war froh, dass er seine Therapie noch heute machte. Alexander und ich brauchten die ärztliche Hilfe, damit wir mit beiden Füßen im Leben stehen konnten. Wer wusste schon, wo wir gelandet wären, hätten wir all die Hilfen nicht angenommen, die man uns angeboten hatte.

„Ich will Miriam nicht sehen, Alex."

Dass ich schon vor einem Jahr vor Miriam gestanden und ihr von ihrer Tochter erzählt hatte, wussten einzig Valentin, Dorian, Kilian und ich. Valentin hatte mich damals begleitet, denn diese Frau war immer noch kaputt. Miriam war mittlerweile drogensüchtig und eine dreckige Hure. Es war widerlich, was aus ihr geworden war und wie viel Freude sie daran hatte. Nicht einmal die Polizei hatte sie zur Besinnung rufen können.

Ich erinnerte mich gut, wie Miriam mich angesehen hatte. Ihre Augen waren von den Drogen rötlich gewesen. Sie hatte nach Sex, Alkohol und Nikotin gestunken. Dieser letzte Anblick hatte mir endgültig alle Hoffnungen genommen, dass sie jemals wieder meine Mutter sein könnte.

„Okay", sagte Alexander schlicht. Er löste seine Hand von meiner und hockte sich vor das Grab. Ein paar Laubblätter entfernte er und legte sie zu einem Haufen zusammen, während ich noch immer auf den Grabstein sah. Der Anblick schmerzte, würde es immer tun.

Warum leben?Where stories live. Discover now