(50) Versuchung

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In meinem Kopf schwirrte es noch etwas, als ich einfach völlig ziellos durch die Gänge im Institut lief und mir hektisch die Tränen aus den Augen wischte. Ich verdammte jede einzelne Träne, die gerade aus meinen Augen floh, konnte sie allerdings auch nicht davon abhalten. Obwohl ich mir gerade nichts mehr als das wünschte. 

Mit flinken Schritten rannte ich und kam schließlich auf dem Dach des Instituts an. Die Luft, die mir entgegenströmte, beruhigte meinen Geist etwas und half mir die schlechten Gedanken ein Stückchen weiter zurück in mein Unterbewusstsein zu drängen. Die Sonne war gerade dabei sich aus dem Staub zu machen, aber die letzten Strahlen erhellten noch immer den Himmel von New York. Die Stadt, in die ich damals geflohen war. 

Das Jurastudium hatte sich wie die einzig richtige Entscheidung nach dem Tod meiner Eltern angefühlt. Für ihren Mord wurde nie ein Täter gestellt und obwohl ich nun wusste, dass Valentin dahinter gesteckt hatte, schien mir noch immer rätselhaft, wie er das geschafft hatte. Nur leider konnte ich mich an die Zeit während und nach ihrem Tod kaum erinnern. Meine Psyche hatte wohl aus Selbstschutz alles gut verstaut und den Schlüssel weggeschmissen. Aber vielleicht würde mir genau das jetzt helfen, um etwas über Valentin herauszufinden, das mir helfen würde, ihn zu vernichten.

Meine Tante hatte nie etwas von dieser magischen Welt erzählt, nachdem ich zu ihr gezogen war. Aber das musste ja nicht bedeuten, dass sie nichts wusste, auch wenn es bei unserem letzten Telefonat so geklungen hatte. Vielleicht bedeutete es gerade, dass sie etwas wusste, weil sie geschwiegen hatte, da sie wusste, dass erst ab meinem 18. Geburtstag der Entwicklungsprozess starten würde. Aber wenn ich ehrlich war, brachte mich das Spekulieren darüber auch kein Stück näher an die Wahrheit. Ich musste zu ihr.

Gerade als ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer machen wollte, um meine Sachen zu packen und zu ihr zu fahren, öffnete sich die Tür zur Dachterasse und Elyssia schritt hindurch. Jegliche Luft wich mir kurzzeitig aus den Lungen und ich kämpfte mit mir, um einen möglichst freundlichen Gesichtsausdruck beibehalten zu können. Ich musste es nur an ihr vorbei schaffen und dann würde ich weder sie noch Alec für die nächste Zeit sehen müssen. Pläne waren allerdings nur gut, wenn man sie auch befolgen konnte. 

"Es tut mir leid, dass das eben passiert ist. Ich wollte niemals, dass du das sehen musst", begann sie und hatte dabei einen weichen Tonfall angeschlagen, der klar ihre Verletzlichkeit und Trauer zum Ausdruck brachte. Dennoch wollte ich mich nicht vorschnell dazu bewegen lassen, ihr und ihm alles zu verzeihen. 

Meine Augen sahen strikt an ihr vorbei und die Stille, die sich nun über uns legte, lies die Spannung in der Luft nur doch bedrohlicher scheinen. Die Tränen begannen sich bereits wieder anzukündigen, allerdings wischte ich sie nur grob weg und drückte mir verzweifelt auf die Augen, um irgendwie den Tränenfluss zu unterbrechen. 

"Alecs Mutter wollte, dass Alec mit mir nach Boston geht. Das hat sie wohl schon seit einer etwas längeren Zeit immer wieder angemerkt und mein Erscheinen hat diese Forderung nicht wirklich verringert", sprach sie nun wieder etwas gestärkter klingend in der Stimme. Dennoch sah ich sie noch immer nicht an und verharrte auf meinem Platz.

"Wir haben vorgeschlagen, dass wir gucken, ob wir irgendeine Chemie haben und wenn das nicht der Fall sein sollte, sie uns mit dem Thema in Ruhe lassen würde", fuhr sie fort mit ihrer Geschichte. Ich rang mit mir. Zu gerne würde ich in diesem Moment wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Ob es sich bei ihren Worten um die, oder zumindest ihre, Wahrheit handelte oder ob sie mir lediglich eine nett ausgedachte Geschichte auftischte. Aber sie musste doch wissen, dass ich sie durchschauen könnte, wenn ich es wollte. Sie wusste aber sicherlich auch, dass ich niemals meine Fähigkeit gegen meine Freunde einsetzen wollte. Aber in diesem Moment begann dieser Grundsatz etwas zu bröckeln.

Ich war dennoch unfassbar froh, dass ich inzwischen so viel Kontrolle über das Öffnen und Schließen des Ventils erlangt hatte, sodass ich nicht einfach bei dem Gedanken daran schon in ihren Gedanken herumwühlte. Dieser Fortschritt gab mir Sicherheit und Selbstbewusstsein, da ich zumindest das in den letzten Wochen erreicht hatte. 

"Alec ist völlig aufgelöst und sucht überall nach dir. Ich bin mir sicher, dass ihm die ganze Situation genauso leid tut wie mir", sagte sie und ich wagte nun den Blick zu ihr. In ihren Augen sah ich Verzweiflung aufleuchten. Verzweiflung und eine andere Emotion, die ich nicht zu deuten vermochte. Wenn ich einen Blick in ihre Gedanken werfen würde, dann würde ich sicherlich mehr erfahren, aber das konnte ich nicht. Diese Linie würde ich nicht so einfach überschreiten und hinter mir lassen. Denn was würde mich danach noch aufhalten?

"Mmmh", murmelte ich nur zustimmend und spürte wie erleichtert ich irgendwie trotzdem war. Der Gedanke, dass all diese Gefühle, die ich bezüglich Alec entwickelt hatte, zertrümmert und am Boden zertreten werden würden, hatte mir scheinbar noch mehr zugesetzt, als mein getrübtes Hirn mir hatte weismachen wollen. 

"Ich habe dich nur zuerst gefunden, aber glaube mir bitte, dass Alec sofort losgerannt ist, als er dich gesehen hat und du nur irgendwie nicht mehr da warst", erklärte sie, aber bereitete mir damit wieder mehr Zweifel. Wenn er direkt losgerannt wäre, dann hätte er mich doch eingeholt oder zumindest würde er nicht so lange brauchen, um mich hier oben zu finden. 

In mir kroch wieder das Bedürfnis hoch einen Blick in ihre Gedanken zu werfen. Verkrampft zogen sich beide meine Hände zu Fäusten zusammen und ich atmete tief durch, um bloß nicht einfach so das Ventil zu öffnen. Auch wenn ich nun scheinbar die mechanischen Abläufe draufhatte, hieß das leider nicht, dass ich gegen eben solche Gedanken immun war. Neben all den anderen Sachen, hatte ich also noch einiges, an dem ich arbeiten musste.

"Ja, ich gehe zu ihm", sprach ich mit einem genauen Blick auf sie aus und  verschwand durch die Tür zurück in das Institut. Meine Schritte führten mich sofort in mein Zimmer, um meine Tasche zu packen. Wenn Alec mich suchte, dann würde er sicherlich auch an meinem Zimmer halt machen und dort nach mir sehen.  Und selbst wenn nicht, dann war das vorerst nicht mein Verlust. Außerdem hatte ich noch immer nicht mein Ziel aus den Augen verloren. Ich musste zu meiner Tante nach Washington, D.C. um mehr herauszufinden. 

"Averie?", erklang eine fragende Stimme, die ich sofort als die von Izzy indentifizierte. Sie klopfte zaghaft an die Tür und öffnete diese dann.

"Reist du ab... wegen Alec?", erkundigte sie sich und die völlige Verwirrung war ihr nicht nur ins Gesicht geschrieben, sondern auch ihre Stimme drückte diese meisterhaft aus.

"Nein. Ich muss zu meiner Tante Clara nach Washington D.C. und Hinweise finden, wie ich eventuell Valentin besiegen kann. Ich habe es vorher nie in Betracht gezogen, weil es nicht so schien, als würde sie etwas wissen, aber nun haben wir ja kaum eine andere Wahl als alle möglichen Informationsstellen abzuklappern", erklärte ich ihr meinen Gedankengang, allerdings klinkte sie sich sofort ein.

"Du willst aber ja wohl nicht alleine nach Washington D.C. reisen, oder?"

Ihre Stimme klang besorgt und empört zugleich, weshalb ich sie versuchte gleich zu besänftigen:

"Wenn du Zeit für eine solche Reise hättest, dann würde ich dich sehr gerne mitnehmen. Meine Tante möchte bestimmt auch gerne mal meine Freunde aus New York kennenlernen"

Ich hoffte inständig, dass Izzy zustimmen würde. Sie hatte ich sofort in mein Herz geschlossen und diesen Platz hatte sie seitdem auch nicht mehr verlassen. Wenn man sich jemanden als Freundin an seiner Seite in einer solch heiklen Situation wünschen könnte, dann war es Izzy. Da war ich mir absolut sicher.

"Na klar. Ich lass dich doch nicht allein dahin. Wer weiß, wo Valentin alles seine kleinen Spitzel postiert hat. Ich kläre das kurz mit der Institutsleitung und Magnus ab und dann kann es losgehen"

HunterWhere stories live. Discover now