Als ich den Anruf entgegen nehme, höre ich zuerst nur ein Rauschen in der Leitung.
„Hallo?", frage ich und höre auch nach wenigen Sekunden kein Wort. „Ich höre nichts."
Wieder keine Antwort und ich verenge meine Augen zu schlitzen. Ist Arion wirklich so leichtsinnig und kommt mir jetzt schon in die Quere? Das ist unfassbar dämlich von ihm.
„Levis?", frage ich ein letztes Mal in das Mikrophon des Handys und kratze mich nervös am Kinn.
„Hallo? Hallo? Remy?"
„Levis, alles okay?", frage ich gepresst. Es raschelt noch einmal, dann ist es ruhig.
„Ah, jetzt", Levis' Stimme tönt an mein Ohr, „Kannst du mich jetzt verstehen?"
„Ja", sage ich und fahre mir durch die Haare.
„Sorry, ich hatte mich mit meinen Kopfhörern verbunden, aber die spinnen mal wieder. Offensichtlich", erklärt Levis. Ich schlucke den Kloß in meinen Hals hinunter und entspanne mich. Mein Blick fällt wie von alleine zu Gin herüber, die immer noch mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt ihr Brötchen isst.
„Was gibt es denn?", frage ich Levis.
„Du hast einen riesigen Fehler begangen!" Ich runzele die Stirn und lasse die letzten Wochen im Schnelldurchlauf Revue passieren.
„Wieso? Was ist los? Haben die Bullen uns etwa mit einen der beiden Überfälle in Verbindung gebracht?"
„Was? Nein", erwidert Levis schnell, „nein, die tappen wie immer in der Finsternis. Nein, ich meine das Bild, Remy."
„Welches Bild?"
„Na, das, was du heute früh mitgenommen hast", Levis klingt ungeduldig, bevor er entrüstet ausatmet. „Der Sonnenuntergang bei Étretat. Du weißt schon!"
Natürlich erinnere mich an das von Monet achtzehnhundertfünfundachtzig fertiggestellte Ölgemälde. Es bildet die auffälligen Felsklippen nahe der im Nordwesten Frankreichs angesiedelten französischen Gemeinde Étretat bei untergehender Sonne ab, wobei die Felskette von Étretat den Vorder- und Hintergrund, das ruhige Meer und den warmen Himmel, voneinander trennt. Die aus Kreide und Feuerstein bestehenden Klippen strahlen in diesem Gemälde Monets nicht in einem hellen Beige, sondern liegen im Schatten vor der untergehenden Sonne. Besonders auffällig sind die drei Felsbögen der Klippen, das Porte d'Amont, das Porte d'Aval und das Manneporte. Diese drei Türen hatte der französische Maler wie viele andere gemalt. Beim Sonnenuntergang von Étretat handelt es sich um eine Darstellung des Porte d'Aval in der Dämmerung.
„Was soll damit sein?", frage ich nach und vergewissere mich, dass mein Rucksack immer noch über meiner Schulter hängt.
„Du hast das Falsche mitgenommen, Remy!"
„Was?", gedanklich erinnere ich mich genau daran, dass ich höchstpersönlich das Gemälde verpackt und in den schwarzen Rucksack verstaut habe. „Levis, ich erinnere mich genau, dass-"
„Das Bild liegt aber hier. Remy, ich habe es direkt vor meiner Nase liegen. Irgendwas muss du da vertauscht haben. Ich habe es gerade ausgepackt und ich bin mir sicher, dass das hier der Sonnenuntergang bei Étretat ist und ganz sicher auch aus achtzehnhundertfünfundachtzig."
Ich atme aus und überlege, wieso mir sowas ausgerechnet heute passieren muss. Ich habe das Bild letzte Nacht nochmal ordentlich verpackt, sodass es auf keinen Fall beschädigt werden kann während des Transportes.
„Aber welches Bild habe ich dann bei mir?", murmele ich schließlich. Dabei haften meine Augen weiterhin auf der schlanken Blondine, die soeben einen Schluck aus ihrem Becher nimmt.
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Amaro
Teen FictionGin's Bruder kommt bei einem Autounfall ums Leben. Sie als Fahrer des PKWs fühlt sich schuldig, hält es zu Hause nicht mehr aus und verschwindet kurzerhand. Ihr Ziel: Australien - das Land, das ihr Bruder als freistes gepriesen hat. Doch wie weit ko...