..10 - Gin [18.05.]

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Da die freundliche Dame nicht mehr die Jüngste ist, halten wir die Fahrt über oft an Raststätten oder Cafés. Wenn ich etwas über Ellen Chriswood gelernt habe, dann ist es, dass sie immer Appetit hat. 

Eigentlich habe ich sie als eine wohlhabende, feinere Dame eingeschätzt, die sie auch ist, allerdings verbirgt sich hinter dem ordentlichen roten Rock und dem gleichfarbigen Hut eine ganz andere Persönlichkeit. Eine Dame, die sich nicht zu schade ist in einen Diner zu gehen und dort zu Mittag zu essen. Aber das bewundere ich sehr an der alten Frau.

Wir haben uns auch viel unterhalten. Eigentlich war es eher so, dass sie mir eine Menge Fragen gestellt hat und ich irgendwie darauf geantwortet habe, immer darauf bedacht, dass ich nicht zu viel über mein missratendes Leben offen lege. 

Ich will ihr nicht meine Geschichte erzählen, denn ich bin mir sicher, dass sie mich dann nicht mehr mit den offenen Blick empfangen würde. Sie würde sich von mir abwenden und mit Sicherheit wird sie auch die Schuld meinerseits an der grausamen Tat erkennen.

Aber Ellen Chriswood ist eine erzogene Dame, deshalb bohrt sie nie zu sehr nach.


Mittlerweile ist es bereits halb neun am Abend und die Sonne beginnt sich langsam hinter den Bergen zu verkriechen. Ellen Chriswood fährt ein etwas unbefahrenere Straße entlang. Sie gibt nicht viel Gas, der alte Chevrolet von ihr brummt vor sich hin.

„Wir sind bald da", übertönt ihre gealterte Stimme das leise Spielen des Radios. Ich nicke und sehe weiter aus dem Fenster. Wenn ich so die unberührte Landschaft beobachte, denke ich an Coljah zurück. In dieser Erinnerung hat er mir erzählt, dass wir dringend zusammen nach Neuseeland reisen müssen. Er hat mir tausende an Fotos gezeigt mit der atemberaubenden Landschaft und deren Populationen, sodass ich mich gleich in die Schönheit der Natur verliebt habe. Aber dann ging er und arbeitete bei der Bank in Portland, kam manchmal zu Besuch und ich blieb zurück, mit einem Kindheitstraum.

 Es schmerzt nur so sehr zu wissen, dass es niemals passieren wird. Dass ich niemals mit ihm da sein werde. Es schmerzt, dass er weg ist.

Ich beiße mir auf die Lippe und balle meine Hände zu Fäusten. Während die Nägel in meine Handinnenflächen bohren, beginnt mein linkes Ohr wieder zu Piepen und ich schließe gequält die Augen.

Warum Ich?

„Gin", ich werde an der Schulter geschüttelt. Ich drehe meinen Kopf nach links und blicke in die besorgten Augen von Ellen Chriswood. „Darling, du zitterst, brauchst du eine Decke?"

Ich höre ihr an, dass sie weiß, dass ich nicht vor Kälte zittere, dennoch fragt sie mich das und ich bin ihr dankbar. Ich schüttele den Kopf und die alte Dame lehnt sich wieder zurück. Wir sind rechts rangefahren und sie mustert mich.

„Manchmal da gibt es Momente, in denen man einfach ertrinkt", beginnt sie schließlich. „Aber ich versichere dir, Darling, auch wenn du denkst, dass sich Wasser in deinen Lungen besser anfühlt, so wirst du irgendwann wirklich durchatmen können. Ohne, dass du untergehst."

Sie lächelt mir leicht zu. Ihre Augen sind ummantelt von den zahlreichen Falten in ihrem Gesicht, aber dennoch strahlen sie mit einer Stärke, die ich selten bei Menschen gesehen habe. Noch kann ich ihren Rat nicht wirklich einordnen. Aber ich kann hoffen, dass ich irgendwann den Schmerz loswerde. Ich habe ihn verdient, aber ich wünsche mir, dass ich ihn nur nachts, wenn ich im Bett liege, spüren muss. 

Kurz darauf bereue ich diesen Gedanken, denn ich habe ihn verdient. Ich habe verdient, dass ich ihn vierundzwanzig sieben ertragen muss.

„Wir sind in 10 Minuten da", unterbricht Ellen Chriswood meine Gedanken. Ich nicke, mein Herzschlag und mein Ohr haben sich wieder etwas beruhigt und ich fokussiere meinen Blick auf dem roten Armaturenbrett des Chevrolets. Diese Farbe scheint anscheinend die Lieblingsfarbe der alten Damen zu sein. 

AmaroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt