..20 - Gin [20.05.]

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Beim besten Willen weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, in diesem Auto zu landen. 

Auf der Flucht.

Mit Verbrechern.

Ich verstehe die gesamte Situation nicht, ich kann sie nicht verarbeiten. Mein Kopf verarbeitet immer noch die Geschehnisse von vor drei Monaten und hat überhaupt gar keine Kapazitäten mehr für sowas.

Erst habe ich gedacht, dass das alles nur ein verdammt schlechter Scherz ist. Ich meine, wer weiß, ich kann Levis noch nicht so recht einschätzen, vielleicht ist es ja seine Art von Humor, wenn die Polizei vor der Tür steht und uns ausfragt.

Ich glaube, ich stehe seit dem ich das blau-rote Licht zuerst wahrgenommen habe, unter Schock. Zuerst habe ich Remys harschen Tonfall und die Beklemmung mitbekommen, und damit ist mir klar geworden, dass das hier alles kein Spiel ist.

Ich weiß auch nicht mehr, was ich der Polizei gegenüber gesagt habe. Jedenfalls habe ich nicht geschrien und um Hilfe gerufen. Wahrscheinlich weil ich immer noch an die Waffe an meinem Rücken denken musste. 

Ich werde es zugeben: Ich genieße den Schock. Ich kenne diesen Zustand noch von den Wochen nach dem Unfall. Es ist so still in mir, ich höre kaum die Geräusche von drumherum und alles was ich wahrnehme, verarbeitet mein Gehirn ganz langsam und ruhig. Die Emotionen treffen mich kaum so stark wie bei vollem Bewusstsein. Ich bin entspannt.

Und das ist ein Zustand, den ich in der Vergangenheit nicht gerade oft genießen durfte.

Ein oder zwei Mal wurden meine wirbelnden Gedanken und Schuldgefühle leiser.

Doch genauso schnell wie das passierte, ging es auch wieder, und ich weiß nicht, ob ich Remy dafür mögen oder hassen sollte.


Definitiv hassen, denn ich sitze in einem Auto, das mich an Coljah zurück erinnern lässt und kann meine Hände nicht bewegen, da sie mir mit einem Kabelbinder auf dem Schoß gefesselt sind. 

Ich glaube, kurz nachdem die Polizei weggefahren ist, wollte ich ebenfalls fliehen. Ich wollte zu Ellen und mich bei ihr in Sicherheit wiegen; wenngleich es auch nur emotionale wäre.

 Danach haben diese Verbrecher mich gefesselt und auf die Rückbank des Camaros geworfen. 

Remy sitzt vor mir am Steuer und steuert den Wagen mit einer enormen Geschwindigkeit über den Highway. Es ist dunkel und uns kommen nicht viele Autos entgegen. Gracon hockt auf dem Beifahrersitz und tippt etwas am Handy. 

Immer wenn ich in den Rückspiegel sehe, folgen uns dicht zwei große Scheinwerfer. Es muss der Van sein, der ebenfalls bei Amor auf dem Grundstück stand. 

Ich traue mich nicht, ein Wort über meine Lippen zu bringen. Ich kann Remy noch nicht einschätzen... Ist er sauer, ist er bedrohlich, ist er brutal? Wird er mir etwas antun?

Noch besitze ich die Hoffnung, dass sie mich an irgendeiner Tankstelle absetzen werden. Dann kann ich zu Ellen zurück und meine Sachen holen. Natürlich werde ich mich bei ihr entschuldigen müssen, dass ich einfach so weggeblieben bin.

Selbst wenn ich jetzt wollte, könnte ich nicht anrufen, weil ich ihre Nummer nicht habe. 

Ich schließe die Augen.

Noch ist es still in meinem Kopf, aber ich spüre, wie die Geräusche langsam wieder klarer werden. Ich bohre meine Nägel in meine Handinnenflächen, in der Hoffnung, die Stille noch ein wenig länger zu behalten.

Aber genauso wie Coljahs Leben fließt die Stille wie trockener Sand durch meine Hände.


„In zwei Meilen kommt eine Tankstelle", dringt dumpf die Stimme von Gracon an mein rechtes Ohr. „Lean meinte grade, dass Levis den Van dringend auffüllen muss, sonst ist's gleich vorbei."

„Mhm", summt Remys Stimme an mein Ohr und mein Herzschlag beschleunigt sich umgehend.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und schlucke.

Dünne, schmale Regentropfen lassen sich brutal auf der Scheibe nieder und rinnen in fingerbreiten Linien zur Seite.

Bitte nicht.

Ich schließe die Augen.

Sofort springt mir das Wrack ins Bild und ich presse meine Nägel noch mehr in die Haut. 

Bitte nicht.

Nicht jetzt.

Ich erblicke den grauen Asphalt vor mir. Mit jedem Meter, den ich fahre, wird er dunkler... nasser. Der Regen hämmert gegen die Windschutzscheibe und ich blicke zu meinem Bruder hinüber, der gerade am CD-Fach herumfummelt. Er summt irgendeine Melodie vor sich hin und ich schmunzele leicht.

Und wieder sehe ich die vielen Autoteile, das viele Blut... Und wieder spüre ich die Wärme, die mich mit sich ziehen will, aber ich kann mich nicht wegbewegen. Es ist, als wäre ich an das Fahrzeugwrack mit einem unsichtbaren Band gebunden. 

Ich öffne die Augen.

Immer mehr Regentropfen habe sich an der Scheibe gesammelt und so langsam höre ich sogar das Prasseln dieser durch meine unsichtbare Schallmauer.

Ich blicke nach vorne und erkenne Remys angespanntes Gesicht im Innenspiegel und schlucke. Er bremst vor einer Kurve scharf ab und schaltet nach ihr sofort wieder einige Gange nach oben. Ich presse die Lippen zusammen.

Und dann beginnt es.

Ohne mein Einverständnis beginnt mein Körper zu zittern. Erst sind es nur meine Hände, dann meine Arme und schließlich mein ganzer Oberkörper. Ich will weinen, ich will schreien, doch ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen, meine Handgelenke schmerzen und mein Herz sowieso.

Wie ein eiskalter, erbarmungsloser Regenschauer prasseln alle Gefühle und Emotionen auf mich ein. Sie ziehen mich herunter und sie drücken mich hinab. 

Ich schnappe nach Luft, in der Hoffnung meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, aber es gelingt mir nicht, ich bekomme nur noch schwerer Luft.

Dann bremst Remy und biegt scharf ab und ich beiße mir auf die Lippe, bis ich Blut schmecke. 

Mir ist so schlecht, ich will einfach nur weinen und verschwinden.

Ich hatte in der Vergangenheit einige solcher Panikanfälle gehabt, aber heute ist es schlimmer. Es ist unkontrollierbarer.

Ich schätze, es ist, weil so vieles auf ein Mal zusammen kommt.

Coljahs Tod, meine Schuld, meine Eltern, mein Selbsthass, Ellen Chriswood, die Verbrecher, die Polizei, der Camaro und nun der Regen. 

Ich kann einfach nicht mehr und ich will auch nicht mehr. 

Es soll einfach nur aufhören.

Bitte!

Es soll einfach nur alles aufhören.

Für immer.

AmaroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt